Insiderberichte aus Organisationen haben oft etwas unangenehmes Denunziatorisches – jedenfalls dann, wenn sie aus kleinen, gejagten und entrechteten Gruppen stammen, welche den Staat und seinen Justizapparat gegen sich haben: Denken wir an die Ex-Juden Margarita und Pfefferkorn oder, schon aufgrund ihrer gröligen Niveaulosigkeit mindestens ebenso scheußlich, die Ex-Scientologin Hartwig. Aber was ist, wenn es sich um mächtige bis fast allmächtige, superreiche und massiv privilegierte Organisationen handelt, welche den Staat und seinen Justizapparat genauso parteilich auf ihrer Seite haben, allen voran die katholische Kirche? Da wird man sicher sein können, dass jedes Wort dreimal gesiebt, jeder Satz dreimal gefiltert, jede Aussage fünfmal juristisch abgeklopft worden ist, bevor sie die Öffentlichkeit erreichen kann – auf diesen parteilich vorgesäuberten Rest kann sie sich also wirklich verlassen. Darüber hinaus hat die katholische Kirche nicht nur ranghohe Mitglieder, und mindestens für die Authentizität des Insiderberichts auf deren unterster Rangstufe ist es nicht gerade schwierig, glaubwürdige Zeugen zu finden – in vielen Fällen sogar einfach durch Introspektion.

Hubertus Mynarek hat das Wagnis auf sich genommen, einen Insiderbericht über die katholische Kirche von der größten Ranghöhe her zu verfassen, von welcher dies bisher jemals vorgekommen ist – er »hat’s gewagt« wie Ulrich von Hutten, als er durch seinen Entlastungsangriff zugunsten Johannes Reuchlins indirekt die westeuropäischen Juden zumindest für die nächsten Jahrhunderte rettete -, und dafür musste er, sehr ähnlich wie der von der Inquisition attackierte, aber zu deren Ärger vor direktem Kirchenjustizmord geschützte große Gelehrte der Frühen Neuzeit, sehr grausam büßen. Es hat ihn weder gebrochen noch verbittert, und das sagt einiges über Mynareks menschlichen Rang.

Die Quälerei durch jene Organisation, aus deren Nähkästchen er geplaudert hat, erinnert aber noch an das Leben eines anderen seiner noch viel älteren Geistes- und Schicksalsverwandten, mit dem ihn zahlreiche weitere Übereinstimmungen verbinden: An dasjenige Abaelards. Zwar kann die Kirche sich nicht mehr an seiner physischen Integrität vergreifen, aber Mynareks Degradierung vom hervorragend bezahlten Theologieprofessor zum Ausgestoßenen und lange Zeit ernsthaft notleidenden Außenseiter einer von der über und über gemästeten und privilegierten Kirche beherrschten Gesellschaft (denken wir nur an Subsidiaritätsprinzip und RU-Pille, beispielsweise) erinnert doch sehr an die Marter Abaelards und die geradezu paramilitärischen Übergriffe des feigen »heiligen« Bernhard von Clairveaux auf ihn, eines jener von Voltaire mit Sicherheit mit diesem Ausdruck gemeinten »heiliggesprochenen Verbrecher«, der der schon angekündigten öffentlichen Diskussion mit dem ihm so turmhoch überlegenen Linksscholastiker und – höchst gemäßigten – Frühaufklärer so wortbrüchig auswich.

Aber die Parallelen gehen noch viel weiter: Theoretische wie praktische Zölibatskritik verbinden Abaelard und Mynarek ebenfalls, wobei in beiden Fällen der Widerwille gegen Heuchelei und Doppelleben das Hauptmotiv abgeben; vor allem aber, und das dürfte die Hauptsache sein, der von jeder Zweideutigkeit freie und reine Einsatz für beider heute so entsetzlich seltene Haupttugend: Die Toleranz. Dadurch hat er es freilich auch mit etlichen organisierten Atheisten verdorben, die sich nun schon ganz lange und heftig darüber in den Haaren liegen, ob gegenüber Mynarek und überhaupt eine lasche Vierteltoleranz oder nicht lieber doch eine radikale Intoleranz am Platze sei – wahrlich, hätten diese Menschen alle Macht im Himmel und auf Erden, es wäre von ihnen ein schauderhaftes, parastalinistisches Terrorregime zu erwarten, neben welchen sich dasjenige eines Paolo Caraffa oder ähnlicher Feinde der Geistesfreiheit noch geradezu gemäßigt ausnehmen würde. Positiver Glaubenszwang setzt offenbar keine Religion voraus, und obwohl ich mir erlaube, bekennender Marxist zu sein, verstehe ich doch sehr gut, dass Marx selber so nicht genannt werden wollte. Zur Intoleranz sogar allerschärfster Art genügen allerdings auch die gewöhnlichsten spätbürgerlichen Ideologien – Popperismus, neoliberale Pressetreue und sog. Anarchismus tun es ohne weiteres auch. Mynarek selber ist freilich, egal welche Irrtümer er vielleicht hat, von Ideologien durchaus frei, jedenfalls soweit ich das erkennen kann – woher käme sonst auch sein Einsatz für echte Toleranz, gerade – denn sonst ist sie Dreck – wo dieser Einsatz gefährlich ist?!

Echte Toleranz ist immer Symptom wie Ergebnis innerer Stärke – deshalb war sie, als das aufsteigende Bürgertum zur Französischen Revolution drängte, Meinungsfreiheit, Rechtssicherheit und Gleichheit vor dem Gesetz kraftvoll und unzweideutig erzwingen wollte, auch so weit verbreitet – wer weiß, dass er sich vielleicht irren kann, die Gegenseite aber notorisch lügt und ausweicht, wird aus dieser Empfindung innerer Stärke die Toleranz nie als lächerlichen Selbstzweck, sondern als wirksamstes Mittel der Wahrheitsfindung betrachten, vor welcher er sich nicht zu fürchten braucht, wohl aber seine Gegner, die darum auch Grund haben, Gewalt und Drohung in die Debatte zu schmuggeln. Mit dem Absterben eines breit gestreuten, freiheitsschützenden Kleineigentums ist sowohl diese moralische Stärke selten geworden wie der Wille zur echten, weil kraftvollen Toleranz zerstoben; es ehrt Mynarek vielleicht mehr als alle anderen, dass er diese immer und ohne Abstriche verteidigt und verteidigt hat, so viele Feinde er sich in einer niedergehenden, toleranzfeindlichen Zeit damit auch machen musste.

Nun wird es aber Zeit, sich seinem Bericht aus dem Leviathan der genuinen und substanziellen Intoleranz zuzuwenden. Sein Buch „Herren und Knechte der Kirche“ ist ein kostbares Dokument.