Überall in der Welt von heute konstatieren wir das, was ich als Systemegoismus bezeichnen möchte, also als den Willen großer politischer, ökonomischer, finanzieller, militärischer etc. Institutionen, ihre Macht um jeden Preis zu erhalten, durchzusetzen und zu steigern. Auch anerkannte Demokratien sind von diesem Systemegoismus nicht frei. Immer wieder und auf den verschlungensten Schleichpfaden versuchen auch sie, die Freiheit und die Rechte ihrer Bürger zu beschneiden oder einzuschränken. Das Unwesen der Beherrschung, Ausbeutung und bürokratisch-anonymen Verwaltung von Menschen durch Menschen ist auch im sogenannten demokratischen Rechtsstaat eine permanente Gefahr und zumindest partiell eine reale Erfahrung der Staatsbürger.
Einen charakteristischen Aspekt dieses Systemegoismus könnte man folgendermaßen umschreiben: Was ist (im Sinne eines etablierten Systems), will sein; obwohl Ernst Bloch recht hat mit seiner Kritik am Vorhandenen: "Was ist, kann nicht wahr sein". Die Mittel, derer sich ein System bedient, um sich an der Macht, in seinem Ist-Zustand zu behaupten, stehen dabei in Bezug auf das Maß ihrer Brutalität in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis von seinem ideologischen, ökonomisch-finanziellen, militärischen und administrativen Machtpotential und dessen faktischer Effizienz. Der Selbstbehauptungs- und Überlebenswille eines Systems ist dabei auch zugleich sein Herrschaftswille, der jede zum Überleben notwendig erscheinende Repression einschließt und im Sinne der obersten Wertkategorie der Systemerhaltung heiligt. Auch die Verbrechen der Systemerhalter, der Staatstragenden, der Konzernchefs etc. erhalten dann einen höheren Sinn: "Der Zweck heiligt die Mittel!"
Konsequenter- und logischerweise versucht also jedes System, sich einen Heiligenschein zuzulegen, um seine Macht zu stabilisieren und zu vergrößern. Das gilt selbst für vom Ansatz und Start her a- oder anti-religiöse, also profane, säkularistische und atheistische Systeme. Sie alle nehmen mit der Zeit eine quasi-religiöse Färbung an, erhöhen und überhöhen sich mithilfe pseudo-religiöser Lehrsätze, Symbole, Rituale. Warum tun sie das? Weil den Machthabern, den Herrschenden, den Macht Anstrebenden das religiöse Element innerhalb ihres ideologischen Fundamentalismus als das erscheint, wodurch sie die Massen im Innersten, im Gewissen, am stärksten und verbindlichsten verpflichten, an ihn festbinden und festnageln können. Ein Hitlerismus, ein Maoismus, ein Stalinismus usw. nehmen zwangsläufig mit der Zeit religiös-bombastische, absolutistisch-göttliche Züge an, weil selbst das perfekteste Orwellsche Überwachungssystem im Hinblick auf die zu beherrschenden Massen noch Lücken aufweist, im Vergleich zu dem die Gewissen und das Innerste bewegenden Religiös-Göttlichen (das »in die Herzen schaut«) noch ein zu äußerliches, zu wenig greifendes und fesselndes Korsett bleibt. Marx sah richtig, als er die Kritik der Religion als »die Voraussetzung aller Kritik« bezeichnete, weil auch alle profan-autonomen Bereiche wie Politik und Gesellschaft, Wirtschaft und Finanzwelt, Industrie und Technik die Tendenz haben, sich einen »Heiligenschein« zuzulegen, sich mit einer religiösen Aureole und Gloriole zu schmücken, um ihre negativen Aspekte zu verschleiern, mehr Durchschlagskraft zu gewinnen, höhere Ansprüche stellen zu können.
Religiöser Fundamentalismus ist das stärkste, massivste, allerdings meist auch attraktivste und faszinierendste, die Massen am meisten einnehmende und einfangende Motiv, weswegen jede Machtpolitik stets bedacht sein wird, eine Religion oder Konfession für ihre Ziele einzuspannen. Kein Zufall, dass auch das antike Imperium Romanum das immer stärker werdende Christentum zur Staatsreligion machte.
Je massiver selbst ein an sich nichtreligiösen Quellen entstammendes Herrschaftssystem wird, je rücksichtsloser es seine Ziele zu erreichen sucht, umso deutlicher werden seine religiösen Züge. Es stellt sich immer mehr dar als das einzig wahre und gute, unfehlbare und alleinseligmachende System. Insofern ist auch die Vitalität, mit der es auftritt, kein Kriterium für seine Wahrheit. Im Gegenteil: je vitaler, desto schlimmer!
Dass alle Herrschaftssysteme quasi zwangsläufig religiös werden, hängt auch mit der Absolutheits- und Unendlichkeitstendenz der menschlichen Natur zusammen. Der Mensch ist auf Absolutes, Unendliches aus, in seinem Erkennen und Forschen wie in seinem Wollen und Fühlen, in seinem Denken, Vorstellen und Lieben. Er will absolute Wahrheit, perfektes Glück. Aber es ist ebenso wahr und gültig, dass er dies nicht erreichen kann. Diese an sich unüberbrückbare Kluft zwischen unendlichem Wünschen und Wollen auf der einen und endlichem Können auf der anderen Seite, zwischen paradiesisch-utopischem Ideal und stets ernüchternden, weil hinter dem Ideal zurückbleibenden Realisierungen macht sich jedes Herrschaftssystem zunutze. Es verspricht die Überwindung der Kluft: »Wenn du dich für mich, für mein System entscheidest, kommst du ins Paradies, erlangst du das vollkommene Heil, berührst, nein, erreichst du das Absolute!« Die typisch religiöse Sprache ist hier lediglich deutlicher: »Wenn du meine Gebote befolgst, den Willen Jahwes, Allahs oder >meines Vaters<, d.h. des Christengottes, tust, wirst du ewig in paradiesischem Glück leben. Du erreichst dann und damit das, was dir sonst ewig unerreichbar bleibt, das durch nichts begrenzte oder beschränkte Göttlich-Unendliche.« Die Sprache zunächst einmal säkularistischer Systeme ist nicht so deutlich religiös, aber sie bedient sich ähnlicher anthropologischer und psychologischer Mechanismen, eben des Heilsversprechens, die erwähnte Kluft zu überbrücken. Insofern trägt jedes System die Gefahr der Heuchelei in sich. Sie liegt wesentlich auch in dieser religiösen Unbedingtheit, Totalität, Universalität und dem damit verbundenen falschen Enthusiasmus.
Religiöser Fundamentalismus ist der größte Betrug, weil er vorgaukelt, das Absolute, Unendliche, Metaphysische, auf das wir aus sind, aber das wir nie erreichen, unfehlbar zu kennen, zu haben, hier und jetzt anbieten zu können. Fundamentalistische Führer, Päpste, Propheten, Politiker, Könige, Gurus sind im Allgemeinen nicht so dumm, nicht zu wissen, dass sie über das Absolute nicht verfügen können; vermutlich zweifeln auch sie manchmal daran, ob es das Absolute überhaupt gibt; oder sie sind zynisch genug, es für eine Illusion, für das »Opium des Volkes« zu halten. Aber aus ihrer Machtbesessenheit, ihrem Machtrausch heraus und dem Wissen, dass »nur das Absolute tröstet«, erheben sie etwas Relatives zum Absoluten, machen sie die Nation oder die Partei oder die Rasse, die Kirche oder die Konfession, den Profit oder die Klasse zum unbedingten, höchsten Wert, dem schrankenlose Verehrung und Anbetung gebühren, proklamieren sie eine Dreiviertel-, Halb- oder Viertelwahrheit als unumstößliche Heilswahrheit, als Dogma, erklären sie irgendein Dokument als Heilige Schrift. Merke: Herrschaftssysteme haben Dogmen und Schriften bitter nötig, denn sie liefern den Machthabern ein besonderes Treuekriterium. Nicht so sehr auf das gesprochene, sondern auf das geschriebene Wort kann man Menschen festnageln, ihre Abweichungen deutlich machen, sie der Ketzerei überführen. Orthodoxie steht und fällt mit dem geschriebenen Wort, der Heiligen Schrift. (Auch die Schriften der Klassiker des Marxismus galten praktisch als heilig, irrtumsfrei, unantastbar, obwohl sie faktisch in der Stalinzeit korrigiert bzw. Teile dem Volk der Arbeiter vorenthalten wurden. Aber das hat man mit der Bibel auch gemacht.)
Durch die Machtbesessenheit eines einzelnen oder einiger weniger, die sich der absoluten Glückssehnsucht der Massen, ihres unbegrenzten Heilsverlangens bedienen, kann es so zur fundamentalistischen Massenbewegung, zum kollektiven Wahn kommen.
Hier noch ein zeitgenössischer Beleg für die These, dass auch an sich nichtreligiöse Ideologien einen religiösen Charakter haben oder annehmen. Viele erinnern sich vielleicht noch an den Ausspruch Gorbatschows am Tag nach der Wiederaufnahme seiner Amtsgeschäfte nach dem missglückten Putschversuch. Er stellte sich damals zum ersten Mal überhaupt dem russischen Parlament. Die Abgeordneten bedrängen ihn, kritisieren das Verhalten der kommunistischen Partei im Zusammenhang mit dem Putsch, manche wollen ein Verbot derselben durchdrücken. Da wird Gorbatschow emotional, ja emphatisch: »Sozialismus, wie ich ihn verstehe, ist eine religiöse Überzeugung«, ruft er und fügt gleich hinzu: ihn aus der Sowjetunion zu verbannen, käme »einem Religionskrieg« gleich.
Latent und der Tendenz nach ist jedes soziologisch relevante System expansiv, weil jede noch nicht beherrschte Zone auf dieser Erde mit vom System abweichenden Lebensformen und Strategien in Politik, Wirtschaft und Kultur einen permanenten »Stachel im Fleisch«, eine kontraproduktive Konkurrenz, eine Dauerprovokation und Infragestellung des eigenen Systems darstellt und auch die eigenen Anhänger zum Abfall reizen könnte. Ganz explizit findet sich die Tendenz zur Weltbeherrschung im Katholizismus mit seinem Dogma des universalen Jurisdiktionsprimats des Papstes über den ganzen Erdkreis und dem Dogma seiner Unfehlbarkeit in Sachen des Glaubens und der Moral.
Tatsächlich aber trägt jedes höher organisierte System den Weltbeherrschungswillen latent in sich. Eine weitere Systemeigenschaft, die zu seinem gerade charakterisierten Weltbeherrschungswillen nur scheinbar im Widerspruch steht: Systeme halten stets Ausschau nach anderen, sie stützenden und verstärkenden Mächten, was man als Gesetz der Machtaffinität bezeichnen könnte. Im Grunde will natürlich jedes System die Alleinherrschaft. Aber so lange es sich nicht mächtig genug fühlt, sie allein zu erringen, sucht es nach Partnern, die ihm dabei helfen könnten. Gerade im Augenblick erleben wir ja eine ganze Flut von Fusionen zwischen an sich miteinander konkurrierenden Medienkonzernen, Großbanken und industriellen Großunternehmen.
An das Gesetz der Machtaffinität von Systemen schließt sich der amoralische Charakter vieler ihrer Handlungen fast zwangsläufig an. Wenn sich ein System im Namen seines obersten Wertes, der Verstärkung und Erweiterung seiner Herrschaft, mit allen liiert, die ihm dazu verhelfen, kann es ihm selbstverständlich nicht darauf ankommen, ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit, ein Nein zur Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen, die Ausschaltung von Ursachen der Ungleichheit und Unterdrückung zu bewirken. Es geht nur noch um die Sicherung der eigenen Existenz, ihre Stärkung und Expansion um jeden Preis, per fas et nefas. Im politischen Bereich haben wir das klassische Beispiel des Hitler-Stalin-Paktes: Zwei so diametral entgegengesetzte Systeme wie Kommunismus und Nationalsozialismus verbünden sich, um ein kleineres Machtsystem, nämlich Polen, völkerrechtswidrig zu schlucken. Im historischen Bereich, der Geschichte der letzten zwei Jahrtausende, haben wir ein weiteres klassisches Beispiel: die Tatsache, dass sich die Kirche seit dem vierten Jahrhundert, seit Beginn ihrer bis heute andauernden konstantinischen Epoche mit allen möglichen Diktaturen rechter wie linker Provenienz verbündet, wenn es ihr Vorteile verschafft und ihrem universalen Missionswillen entspricht. Zwar konnte sich Kirche – wie übrigens jedes System – in ihrer Geschichte unter besonderen, ihr Vorteile verheißenden Umständen sogar ein paarmal mit revolutionären Bewegungen verbinden. Dabei mobilisierte sie jedoch stets nur ihr Potential an Anpassungsenergien mit dem Ziel der Erhaltung bzw. Erweiterung der eigenen Macht unter revolutionär veränderten Bedingungen, niemals übernimmt sie echt emanzipatorische Führungsrollen. Vom sozialistischen Experiment Allendes in Chile fiel sie sofort in dem Augenblick ab, als sie merkte, dass die Macht dieses Politikers abzubröckeln begann.
Die Geschichte der Herrschaftssysteme lehrt uns auch, dass organisierte Macht sich noch nie von selbst, ohne gewaltigen Gegendruck von außen aufgegeben hat. Diese Systeme folgen sklavisch dem Gesetz der Persistenz, Permanenz und Resistenz gegen jeden Druck von außen und von innen und behaupten sich so lange, wie dieser Druck das Potential ihrer repressiven Energien nicht überschreitet. Alle Ämter, Funktionen, Positionen innerhalb dieser Systeme dienen mit der Zeit nur noch dazu, alle freiheitlichen Regungen, alle emanzipatorischen Initiativen, alle Kreativität ihrer Mitglieder mit den Mitteln der Überwachung, der Kontrolle, der Reglementierung, des "Mobbings" und eines geradezu "hierokratischen Zwanges" (Max Weber) im Sinne der monopolisierten, feierlich aufgeplusterten Spendung oder Versagung von "Heilsgütern" in Form von Ernennungen, Begünstigungen, finanziellen Belohnungen, Titeln etc. durch den "Generalstab" des Systems zu unterbinden.
Auch der Großkonzern Kirche ist keineswegs, wie sie es so gern hinstellt, eine Institution »nicht von dieser Welt«, von rein uneigennützigen, geistigen, das Seelenheil betreffenden Interessen gelenkt, sondern durch und durch weltlich, in gar nichts (außer der gegenteiligen bombastisch- pseudoreligiösen Propaganda) von anderen Institutionen und Organisationen dieser Welt unterschieden.
Allerdings sticht in diesem Zusammenhang ins Auge ein signifikantes Sondermerkmal der Kirche im Vergleich zu allen Machsystemen auf unserem Planeten: der alles überstrahlende Heiligenschein. Es kommt objektiven Betrachtern der äußerst negativen Aspekte der Kirche im Laufe von zwei Jahrtausenden zwar wie ein Wunder vor, aber dieses Wunder scheint wirklich geschehen zu sein. Und es ist vielleicht das größte, dessen die Menschheit seit ihren allerersten Anfängen je Zeuge geworden ist. Was den Nachfahren Hitlers und Stalins noch in tausend Jahren nicht gelingen wird, schaffte die Papstkirche mit leichter Hand: Sie erscheint in den Augen der Masse und vor allem der gesellschaftlich maßgeblichen Staatsmänner, Politiker und großen Wirtschaftsbosse als die Institution in der Menschheit, die über die allerhöchste moralische Autorität und Integrität verfügt. Total verdrängt und vergessen sind die Hekatomben von Menschenopfern, die sie auf dem Altar ihres Unfehlbarkeits- und Machtwahns darbrachte. Und ein Schuft und Atmosphärenvergifter, wer daran erinnert! Aber nun gut, wir wollen nicht nachtragend sein, obwohl auch ein Schuft, ja ein größerer, ist, wer emotions- und klaglos über die Toten hinwegsieht, die unschuldig gelyncht, gefoltert, gemartert, geschunden, gekreuzigt, verbrannt wurden. Aber die Frage wird doch wohl, ja muss erlaubt sein, ob die wunderbare Bekehrung der Kirche von einer Machtinstitution mit vielen Verbrechen in allen Jahrhunderten zu einer moralischen Anstalt höchsten Maßstabes wirklich erfolgt oder illusorisch ist. Wäre diese Bekehrung nämlich nur eine Täuschung und würde man dieser Frage trotzdem nicht nachgehen, dann wäre das mahnende Opfer der Millionen, die vom Unfehlbarkeitswahn und Machtrausch der Kirche zur Strecke gebracht wurden, endgültig umsonst.
Hat die Kirche sich also vom Saulus zum Paulus gewandelt? Straft und verfolgt sie die Abweichler, die Nonkonformisten, die Ketzer, die "Heiden", die "Sektierer" und Aussteiger aus ihrem System heute nicht mehr?
Diesbezüglich muss jeder auch nur einigermaßen neutral-sachliche Beobachter zugeben: Die in die Augen fallenden Kollektiv-Verbrechen der Kirche haben sich zwar in der Neuzeit allmählich verringert, aber das geschah nicht aufgrund einer Bekehrung der Kirche, die sich offiziell von ihren Verbrechen, selbst den größten, nie distanziert hat, sondern weil sich die Freiheit und Autonomie der Staaten und Gesellschaften ihr gegenüber vergrößert haben. Der Machtschwund der Kirche und der Machtzuwachs der säkularisierten Gesellschaften haben sie "sittlicher" gemacht, präziser: haben sie gezwungen, sich in der nichtkirchlichen Welt und Öffentlichkeit moralischer und humaner zu gebärden. Ja, da ihr Kriegs- und Angriffswaffen fehlen, mit denen sie auch nur die geringste Chance hätte, den modernen Weltmächten entgegenzutreten, bringt sie - freilich nur verbal, aber in virtuoser Weise – die Waffe der Moral in Anwendung. Hier, auf diesem politisch-ethischen Gebiet, sonst nirgendwo im weiten Bereich der Politik, kann sie noch Triumphe feiern und Autorität und Macht präsentieren. Es wirkt zwar für den, der das Spiel durchschaut, äußerst geschmacklos, wenn die Päpste, deren Vorgänger zu den größten Massenschlächtern der Geschichte gehören, nun ununterbrochen in ihren Ansprachen an die Menschheit die Menschenrechte herbeizitieren und ihre Verdienste um sie preisen. Aber all das schlucken schon die Massen und, solange die das tun, schlucken es auch die stets von Mehrheiten abhängigen Regierenden der Völker.
Fest steht: Es gibt keine Errungenschaft in puncto Freiheitlichkeit und mitmenschlicher Solidarität, die ursächlich auf die Kirche zurückginge. Jeder dieser Errungenschaften, jedem Fortschritt in den Menschenrechten hat sie stets zuerst ein schroffes "Nein" entgegengeschleudert. Dann rangen sich viele Jahrzehnte, manchmal ganze Jahrhunderte später die Herren der Kirche schweren Herzens zu einem "Jein" durch. Und schließlich proklamierten sie die keineswegs durch sie zustande gekommenen Errungenschaften triumphal als die ihren, als den "entscheidenden" Beitrag der Kirche und des Papsttums zum kulturellen, moralischen und sozialen Fortschritt der Menschheit. Die Wahrheit aber ist, dass jede Verbesserung in puncto Gleichheit und Freiheit der Menschen, in Bezug auf das Los der Frauen, der Arbeiter, der Ausgebeuteten, der Kinder, der Sklaven, der Tiere usw. gegen den - oft erbitterten - Widerstand der Amtskirche durchgesetzt werden musste. "Nur der Druck von außen - die Französische Revolution, Aufklärung und Liberalismus - hatten im 19. Jahrhundert die von den Päpsten jahrhundertelang inszenierten Unmenschlichkeiten etwas eingedämmt. Der Kirchenstaat, der weltliche Herrschaftsbesitz des Papstes, blieb bis zu seiner Auflösung im Jahr 1870 ein Polizeistaat unter päpstlicher Flagge.“ Nach seinem Verlust aber setzte das Papsttum umso mehr auf die Stärkung seiner „moralischen Weltautorität“. In Wirklichkeit bleibt das folgende Urteil für alle Pontifikate aller Päpste gültig: „Im Papsttum vollzieht sich die Fortsetzung
des Römischen Reiches in der Form einer absolutistisch-totalitären Theokratie, der das Christentum die Argumentation zur Abstützung römischer Machtansprüche zu liefern hat. In dem Bemühen, die Macht des römischen Papstes zu begründen und zu stärken, wurde das Evangelium funktionalisiert, dergestalt, dass das von Rom errichtete Lehrgebäude als Ideologie zur Absicherung des Römischen Klerofaschismus anzusehen ist. Dogmen und Normen, als Ausdruck der Verkündigung Jesu vorgestellt, werden als Unterwerfungsmechanismen verstanden und praktiziert. Mit ihrer Hilfe werden katholische Christen zu Marionetten degradiert, welche die Bestimmung haben, systemkonform zu funktionieren. Innerhalb des päpstlichen Verwaltungsapparates sind die subtilsten Methoden der Intrige, der Verleumdung und des geistlichen Terrors entwickelt worden. Lüge und Heuchelei, Byzantinismus und Servilität, aber auch die Albernheiten des päpstlichen Titelwesens gehören zum Bild dieses Systems. Die Kurie hält weiterhin am Prinzip totalitärer Machtausübung fest und sucht unter Verletzung elementarer, für jeden Rechtsstaat fraglos gültiger Grundsätze der Menschlichkeit das freie Wort in der Kirche zu ersticken. Die durch das römische System bis zur Perfektion vorangetriebene Ideologisierung des Christentums für Zwecke der Macht ist Nihilismus.“
An diesen Strukturpfeilern der Kirche hat sich in Wirklichkeit unter den drei bisher letzten Päpsten Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus außer einigen kosmetischen Korrekturen an der vorher zu offensichtlichen Machtausübung des Systems Kirche nichts geändert. Mögen Teile des katholischen Fußvolkes noch so heftig gegen diese Strukturen protestieren und demonstrieren, den Politik- und Wirtschaftsbossen kommt das Gebaren der Kirche äußerst gelegen. Sie schmücken sich angesichts ihrer den Massen immer deutlicher werdenden Demokratiedefizite mit der „moralischen Autorität“ der Kirche und ihrer päpstlichen Spitze. Ganze Gesellschaften, Regierungen, Staaten, Staatenbünde, Großunternehmen, EU, UNO, Parlamente, WWF etc. pp. laden „Ihre Heiligkeit“, die Wojtylas, Ratzingers und Bergoglios, oft unabhängig von der eigenen, oft diametral entgegengesetzten Weltanschauung, feierlich ein, vor ihren mit den prominentesten Meinungsführern besetzten Gremien sich majestätisch zu präsentieren und nichtssagende, folgenlose Appelle zum Weltfrieden, zur Versöhnung der Völker, Klassen, Rassen und Religionen, zum Abbau der Ungerechtigkeiten in der Welt, zur ökologischen Rettung der Erde usw. zum Besten zu geben. Selbst eingefleischte Atheisten und Agnostiker sind bisweilen vom „numinosen Schein“, von der Illusion einer mit überweltlicher Autorität ausgestatteten Papstfigur berauscht, ehe wenigstens bei einigen der nüchterne, kritische Verstand allmählich wieder einsetzt und das Theater der Päpste durchschaut.
Dieses Welttheater der Päpste stellt das Bleibende, stellt die Kontinuität der päpstlichen Politik in allen Pontifikaten der bis heute andauernden Konstantinischen Epoche der Kirche mit ihrer Verfilzung von Thron und Altar, von Staat und Kirche dar. Der Wandel ist von akzidentiellerer Art, abhängig vom individuellen Charakter und Naturell des gerade regierenden Papstes und noch mehr von der sich den weltpolitischen Machtverschiebungen während eines Pontifikats anpassenden kirchlichen Strategie zugunsten der Bewahrung und Vermehrung der eigenen Macht, des eigenen Einflusses unter wie auch immer veränderten politisch-wirtschaftlich-gesellschaftlichen Verhältnissen.
Geradezu virtuos nutzte der Wojtyla-Papst Johannes Paul II. diese Machtverschiebungen zugunsten seiner selbst und der Kirche. Schon seine Wahl zum Papst profitierte von den veränderten bzw. noch zu verändernden Machtverhältnissen. Den durch Aufklärung, Religionskritik und Erstarken des Kommunismus in ihrem Glauben verunsicherten Bischöfen musste der Defensor Fidei gegen diesen vermeintlich atheistischen Kommunismus in Polen, der mystisch glühende Glaubensmissionar Wojtyla, geradezu wie der von Gott in eine immer glaubensschwächer werdende Welt gesandte letzte Nothelfer erscheinen, dessen Wahl zum Papst sie als unbedingte Pflicht erachteten.
So sahen es besonders gerade auch einige US-Bischöfe und Kardinäle, und nicht nur sie, sondern auch hinter ihnen stehende politisch und ökonomisch einflussreiche Kreise in den USA. Schon lange war diesen ein Dorn im Auge, dass der Kapitalismus mit seinem zwangsläufig globalen, alle Grenzen überschreitenden Profitimpuls am Eisernen Vorhang haltmachen musste, dass die dem Kapitalismus zugeordnete Ideologie des Liberalismus hinter diesem Vorhang durch die Ideologie des Kommunismus blockiert wurde. In dem Polen Wojtyla sahen diese Kreise einen geistigen Führer, der zur Aufhebung der Spaltung Europas und der Welt in zwei Machtblöcke entscheidend beitragen konnte. Stets hatte ja Wojtyla die für die meisten seiner Landsleute selbstverständliche Westbindung Polens betont: »Wir Polen haben seit tausend Jahren den westlichen Weg gewählt.« Seit der Polen-
herzog Mieszko I. 966 getauft worden war, hatte sich Polen stets als Bollwerk Westeuropas gegen Asien, gegen Tartaren, Russen und Türken, als Verteidiger des Abendlandes empfunden, und auch als vorderste Front des Katholizismus gegen die stets im Dienst der Zaren, der weißen wie der roten, stehende russisch-orthodoxe Kirche. Die Bischöfe Wyszynski und Wojtyla versäumten es auch nicht, immer wieder auf die Bollwerkfunktion des polnischen Katholizismus gegen den marxistisch-leninistischen Atheismus hinzuweisen. Sie hatten nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie den Atheismus dieser Prägung für die Hauptgefahr unserer Zeit halten und allein in der Wiedervereinigung Europas unter christlichem Vorzeichen den effektiven Weg zur Überwindung des sowjetischen Systems sehen.
In vielen Punkten stimmte also die Konzeption Wojtylas mit der Ideologie einflussreicher politisch-ökonomischer Lobbys in den USA überein. Bei Besuchen in den USA konnte er sein Konzept in zahlreichen Gesprächen mit Kirchenmännern und Politikern noch zusätzlich erläutern. Insbesondere für die CIA und die US-amerikanische Sektion des »Souveränen Malteser-Ritterordens«, dem einflussreiche Politiker und Unternehmer angehören, verkörperte Karol Wojtyla die Hoffnung, der eiserne Ostblock lasse sich aufsprengen. Die US-amerikanischen Kardinäle als direkte Wähler des Papstes wurden entsprechend inspiriert und motiviert, wenn sie nicht ohnehin schon die polnisch-katholische Ideologie so in sich trugen wie der polnisch-stämmige Kardinal Krol von Philadelphia, der zusätzlich auf seine amerikanischen Kardinalskollegen einwirkte. So war es kein Wunder, dass das meist sehr gut informierte US-amerikanische Nachrichtenmagazin TIME Karol Wojtyla vor dem Konklave als Papstkandidaten bezeichnete. Auch einige spanische und südamerikanische Kardinäle hatten offenbar schon mitbekommen, woher der Wind wehte, denn sie besorgten sich noch vor dem Einzug ins Konklave alle vorrätigen Publikationen Wojtylas aus den Buchhandlungen.
Nach seiner Wahl zum Papst bezeugte Wojtyla den USA gegenüber denn auch permanent seine Dankbarkeit für die ihm erwiesene Unterstützung. Seine »Außenpolitik« stimmte er, nicht nur in Bezug auf Lateinamerika, mit den USA ab, und überall förderte er deren Interessen, ob in Europa oder in Übersee. Als erster Papst überhaupt besuchte er gleich 1979 das Weiße Haus und war dabei voll des Lobes für die hohen sittlichen und geistigen Werte im Leben des modernen Amerika, für die Unterstützung der Armen, Bedürftigen und Unterdrückten. Als die US-Bischöfe 1984 einen Hirtenbrief vorbereiteten, der im Gegensatz zu den lobenden Worten des Papstes die fatale Sozial-, Wirtschafts- und Auslandshilfepolitik der Reagan-Administration anprangern wollte, erreichte der US-Präsident beim Wojtyla-Papst, dass der Brief erst nach Reagans Wiederwahl erscheinen durfte, also zu einem Zeitpunkt, wo er ihm kaum mehr schaden konnte. Als 1982 die US-Bischöfe ein Dokument gegen die atomare Strategie und für den Verzicht auf Erstschlagwaffen vorbereiteten, intervenierte der ehemalige CIA-Vizechef Vernon Walters, seines Zeichens zugleich ›Souveräner Malteser-Ritter‹, beim Papst, der sofort eine Abschwächung und Verwässerung des Dokuments durchsetzte. Den deshalb aufmuckenden Teil der Bischöfe wies Wojtyla scharf zurecht. Erst viele Jahre später, Anfang 1998, übte Johannes Paul Il. bei seinem Kuba-Besuch verhaltene Kritik an der Embargo-Politik der USA. Trotzdem verband ihn auch bei diesem Besuch, wie während seines gesamten Pontifikats, ein großes Ziel mit den USA: Die vollständige Tilgung des Kommunismus vom Antlitz der Erde.
Reagan zeigte sich seinerzeit dankbar: Seine Administration nahm volle diplomatische Beziehungen zum Vatikan auf, wie sie seit über hundert Jahren, seit 1867, nicht mehr in dieser Form bestanden hatten, und ernannte einen US-Botschafter beim Heiligen Stuhl. Natürlich spielte hierbei auch eine Rolle, dass die beiden Exschauspieler Reagan und Wojtyla so ähnliche Ansichten über das Sowjetimperium hegten, das der erstere bekanntlich als »Reich des Bösen« apostrophiert hatte. Wojtyla seinerseits war fest vom Eintreffen der Prophezeiung der Muttergottes von Fatima überzeugt, nach der die atheistische Sowjetunion sich bekehren werde. Doch wenn Kirchenführer an eine Prophezeiung glauben, dann warten sie nicht einfach still und leise wie ihre gläubigen Schafe auf ihre Erfüllung, sondern helfen mächtig nach. Der Wojtyla-Papst tat das auch. Kräftig unterstützte er die polnische Solidarność-Bewegung mit Lech Walesa an der Spitze moralisch, politisch und finanziell. Ähnliches taten die USA und insbesondere die CIA. Sie setzten Moskau mit Nachrüstung und Drohungen unter Druck und unterstützten die Streiks der Gewerkschaft »SoIidarität« mit Dollarmillionen. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass der revolutionäre Erdrutsch, den die Solidaritäts-Bewegung in Polen und seinen sozialistischen Nachbarstaaten bis hin nach Russland ausgelöst hat, ohne die tatkräftige und massive Unterstützung des polnischen Papstes nicht erfolgt wäre. Der Wojtyla-Papst jedenfalls hat alle Erwartungen, die die US-Politik mit seiner Wahl verbunden hatte, geradezu übererfüllt.
Zu Hilfe kam dem polnischen Papst bei seinen Bemühungen, seine Heimat mit Unterstützung der Amerikaner von der sowjetischen Herrschaft zu befreien, auch der Umstand, dass Präsident Reagan sich mit strenggläubigen Katholiken umgeben hatte. CIA-Chef William Casey z.B. war ein papstergebener Katholik, der schon erwähnte spätere Sonderbeauftragte Vernon Walters ebenfalls. Es gab Geheimdienstkontakte der CIA mit dem Papst. CIA-Chef Casey besuchte ihn einige Male, und Walters erläuterte dem Papst geheime Satellitenfotos des US-Geheimdienstes. Die Bigotterie ging so weit, dass Casey und sein damaliger Stellvertreter Robert Gates gemeinsam mit dem Papst beteten und Walters sich sogar Rosenkränze von ihm weihen ließ. Die Zusammenarbeit gedieh denn auch prächtig: Die CIA berichtete dem Papst Geheimes über Schwierigkeiten, Schwächen und Pläne der Sowjets. Der Papst gab Informationen über Stimmungen und Bewegungen im Volk, die er vom „besten Geheimdienst“, den Priestern im Ostblock, erhalten hatte, an die US-Geheimdienste weiter. Gates: »Ich denke, der Papst wusste mehr als wir«.
Die Sowjets waren nicht so dumm, dass sie von dieser Connection »Vatikan – CIA« nichts gewusst hätten. Sie waren z.B. überzeugt, dass auch US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski, ein antisowjetischer Falke, seine Hände bei der Wahl Wojtylas zum Papst im Spiel gehabt habe. Nachdem der Ostblock zusammengebrochen war, schrieb Michail Gorbatschow 1992, dass »ohne die gewaltige politische Rolle des Papstes die Ereignisse im Osten undenkbar gewesen wären«. »Wojtylas Wahl zum Papst war der entscheidende Moment«, bestätigt der ehemalige polnische Innenminister und Chef des Geheimdienstes, General Kiszczak. »Das war der Anfang vom Ende.«
Die entscheidende Bedeutung der Verbindung zwischen Vatikan und USA haben inzwischen auch maßgebende Vertreter dieser Holy Alliance selbst bestätigt – ihr verbindendes Ziel der Unterwerfung des Ostblocks war ja nun unwiderruflich erreicht. ln einem Interview mit den Journalisten H. Blondiau und U. Gümpel berichtete vor wenigen Jahren der seinerzeitige Beichtvater Lech Walesas, der Danziger Prälat Henryk Jankowski: »Johannes Paul II. war von Anfang an derjenige, der die Zersetzung des gesamten kommunistischen Systems verursacht hatte. Als Priester stand ich Pate, als Solidarnosc geboren wurde. Man musste sie wie ein Kind behandeln.« Witzigerweise eine durchaus zweideutige Bemerkung angesichts der Tatsache, dass der Prälat später wegen Kindesmissbrauchs angeklagt wurde. Auch die Finanzierung der Solidarnosc durch den Vatikan gibt Jankowski unumwunden zu: »In der Situation, in der sich Polen damals befand, wäre es kaum vorstellbar gewesen, dass der Papst seine eigenen Nächsten, seine armen, gequälten Landsleute, die im Gefängnis saßen und interniert wurden, im Stich gelassen hätte. Er hat alles unterstützt, was auch der Expansion der Kirche diente. Wenn man Kriege führen will, muss man Geld dafür haben. Wenn man sie fortsetzen will, braucht man ebenfalls Geld. Und wenn man einen Krieg gewinnen will, braucht man noch mehr Geld«.
Knapp 20 Jahre nach diesem „Krieg“ bemerkte der CIA-Vize Vernon Walters: »Was wir damals unternommen haben. unterliegt noch immer der Geheimhaltung«. Fest steht für ihn aber, dass »die Sowjets eine Schlacht verloren« haben, als Wojtyla zum Papst gewählt worden war. Auf die Frage, welche Zuwendungen Solidarnosc damals erhielt, wird der Ex-Geheimdienstler dann doch konkreter:
»Alles Mögliche. Solidarnosc bekam beispielsweise Faxgeräte, Druckmaschinen und andere Sachen. Jedenfalls Dinge, die sie vorher nicht hatten. Die begriffen schon, dass das nicht vom Himmel fiel – jedenfalls nicht direkt vom Himmel. Es war überwältigend, Solidarnosc an die Macht gebracht zu haben. Die Zusammenarbeit zwischen dem Vatikan und den USA, zwischen dem Papst und Reagan, das war der entscheidende Faktor für die Befreiung Polens und den Zusammenbruch des sowjetischen Regimes«. Und Reagans Außenminister Alexander Haig resümiert: »Wenn ich an diese Situation von damals zurückdenke, dann kann ich nur eines feststellen: Dieser Papst, mit seiner Persönlichkeit. er brachte das meiste mit. Er hatte den größten Anteil am Sieg. Und wenn wir uns heute alle gegenseitig auf die Schultern klopfen, dann gebührt dem Vatikan, dem Papst, eindeutig der stärkste Klaps auf die Schultern«.
Erfüllt hatte der Wojtyla-Papst auch die Erwartungen des antikommunistischen Ordens »0pus Dei«. Dieser gegenwärtig mächtigsten, einflussreichsten, aber auch rigorosesten, reaktionärsten und fundamentalistischsten Geheimorganisation in der katholischen Kirche, die der Studienleiter einer katholischen Akademie als »Katholische Mafia« charakterisiert, passte es ganz und gar nicht, dass ihre universalistisch-totalitäre Strategie der Unterwanderung aller Machteliten in Politik, Wirtschaft, Banken, Wissenschaft, Medien und Kirche sich jenseits des Eisernen Vorhangs nicht voll entfalten konnte. Während jedoch Päpste wie Johannes XXIII. und Paul Vl. dem Opus Dei mit Vorsicht und Misstrauen gegenüberstanden, obwohl es sich auch ihnen als »mobiles Corps« und »Kampftruppe des Papstes« mit straffster Disziplin und größter Effizienz angeboten hatte, unterhielt Wojtyla bereits als Erzbischof von Krakau enge Kontakte zu ihm und überschüttete es als Papst mit Gunstbeweisen und einzigartigen Privilegien bis hin zur im Eiltempo durchgesetzten Seligsprechung seines charakterlich äußerst umstrittenen Gründers, des Spaniers José Maria Escrivá de Balaguer. Der Zuwachs an innerkirchlicher Macht für Opus Dei, das Johannes Paul II. systematisch förderte, beweist, dass auch die Opus-Dei-Mitglieder und -Sympathisanten unter den den Papst wählenden Kardinälen für Wojtyla gestimmt haben müssen.
Das »Wunder der göttlichen Vorsehung«, für welches viele gläubige Menschen die Wahl eines Polen zum Papst hielten, erweist sich also bei eingehenderer Prüfung als recht systematisch bewerkstelligte Aktion verschiedener, sehr weltlicher, die Kardinäle aus dem Hintergrund beeinflussender Interessengruppen.
Neuer Papst – neue Hoffnung! Auch wenn Kardinal Joseph Ratzinger dank der massiven Protektion und Favorisierung durch den Wojtyla-Papst und dem Opus Dei angehörende bzw. nahestehende Kardinäle auf die cathedra Petri gelangte, verbanden doch viele Katholiken in der Welt, besonders aber in Deutschland, mit dieser theologischen Koryphäe die Hoffnung auf positive Veränderungen in der Kirche.
Die Presse fast in ihrer Gesamtheit, das Fernsehen auf beinahe allen Kanälen, das Internet, eine Unmenge von Publikationen aller literarischen Genres sangen das Loblied dieser »einzigartigen« Gestalt des Joseph Ratzinger, der zum Papst Benedikt wurde. Es schien fast, als ob die postmoderne Beliebigkeit durch die Fokussierung auf diese Gestalt und die Identifizierung mit ihr der neuzeitlich-modernen Aufklärung den letzten, endgültigen Todesstoß versetzen sollte. Selbst Denker, die im Allgemeinen der kritisch-aufklärerischen Richtung zugeordnet werden, fügten sich plötzlich dem Trend zur kritiklosen Aufwertung eines der letzten absolutistischen Monarchen auf unserem Globus. Oder man wollte vielleicht ein Stück von dem Kuchen der Mega-Verehrung für den neuen Papst für sich selbst abschneiden. Ein Philosoph wie Jürgen Habermas diskutierte mit ihm freundschaftlich in der Katholischen Akademie Bayern, ein Hans-Magnus Enzensberger betonte seine Notwendigkeit als moralische Stütze der Gesellschaft, ein Günter Grass wollte ihn gegen Ende des Krieges oder kurz danach in einem Gefangenenlager der Amis sogar getroffen haben.
Nun, wenn auch gar nicht so wenige mit dem Ratzinger-Papst diese neue Hoffnung auf eine echte Regeneration der Kirche, auf eine neue Ära einer vom kapitalistischen Materialismus und krankhaften Macht- und Geldstreben befreiten Kirche verbanden, mussten sie doch spätestens nach ein paar Jahren erleben, dass es dieser Papst selbst war, der diese idealistischen, unrealistischen Träumereien seiner Schafe am deutlichsten und überzeugendsten widerlegte, indem er angesichts der Vatileaks, der in Vatikan und römischer Kurie aufgedeckten Menge an Korruptionsfällen das Handtuch warf, enttäuscht resignierte und kapitulierte, so dass er als der erst zweite Papst in der gesamten Kirchengeschichte sein Amt niederlegte.
Drei Jahre später sieht das der 89-jährige Ex-Papst in seinem Interview-Band »Letzte Gespräche« (mit dem Journalisten Peter Seewald) aufgrund von Altersweisheit oder -trübung ganz anders und gelassener. Sicher, seine Schwäche sei auch gewesen, nicht genug auf die Menschen zuzugehen, doch betrachte er sich nicht als „Gescheiterter“. Nein, nein, der Amtsverzicht sei keine Folge von Intrigen und Skandalen gewesen. „Zurücktreten darf man nicht, wenn die Dinge schief liegen, sondern wenn sie in Frieden sind. Ich konnte zurücktreten, weil in dieser Situation wieder Ruhe eingekehrt war. Man darf nie weggehen, wenn es ein Davonlaufen ist. Man darf nur weggehen, wenn niemand es verlangt“. Selbst katholische Theologieprofessoren bezweifelten angesichts dieser Auslassungen Ratzingers, ob er zu seinem Rücktritt wirklich alles gesagt hatte. Dagegen lobt sich Ratzinger sogar dafür, eine homosexuelle Lobby im Vatikan zerschlagen zu haben, gesteht aber, dass sich auch wieder eine neue bilden könne.
Der alte Herr widerspricht sich aber auch fast im gleichen Atemzug. Er sei Gott dankbar, „dass diese Verantwortung, die ich nicht mehr tragen konnte“, von ihm abgefallen sei, er habe auch nicht ein langes Leiden als Teilnehmer seiner eigenen Sendung beabsichtigt, wie das sein Vorgänger Johannes Paul II. getan habe, „denn so was darf man nicht beliebig wiederholen“, betont Benedikt im Gespräch mit dem Journalisten. Auch die Korruption und Vetternwirtschaft, die man seinem Staatssekretär Kardinal Tarcisio Bertone zur Last gelegt hat, sieht Ratzinger nunmehr in milderem Licht: „Wer macht eigentlich keine Fehler?“ Auch für seinen Kammerdiener Paolo Gabriele, der den „falschen Weg“ gegangen sei, als er private Akten aus dem Vatikan stahl, hält er jetzt eine Entschuldigung bereit: „So ist halt die Welt. Die schlechten Fische sind auch im Netz.“
Nun, wir wollen nicht weiter darüber sinnieren, was für weitere Hintergründe die überraschende Abdankung des Ratzinger-Papstes noch gehabt haben könnte. Wenn jetzt aber eine ganze Reihe von Ratzinger-Apologeten im Zusammenhang mit dieser Abdankung aus ihm einen christlichen Märtyrer machen möchte, einen großartigen gradlinigen Charakter, der auf all den Ruhm, all die Ehre, die mit der Stellung des Papstes verbunden sind, großherzig-selbstlos verzichtete, dann lägen sie alle falsch. Denn dieser Kirchenmann Ratzinger, der nie ein Praktiker, nie ein in Tagesgeschäfte verwickelter Politiker, nicht einmal ein in der praktischen Seelsorge Erfahrungen Sammelnder war, sondern nur Theoretiker, Theologe, genauer Ideologe, der seine Hände nirgendwo zu schmutzig machen wollte, vielmehr lediglich ganze Traktate zum richtigen Verhältnis von Staat und Kirche, zum rechten Demokratieverständnis verfasste und lang und breit dafür argumentierte, dass die Kirche keine Demokratie, sondern eine vom Stellvertreter Gottes geführte Theokratie sein müsse, dieser Mann verschaffte sich einen glänzenden, eleganten Abgang, der ihn in die Annalen der Papstgeschichte massiver und nachhaltiger eintragen wird als Vieles, was andere Päpste vor ihm getan oder verbrochen hatten. Er wusste ganz genau, dass er, der Zartbesaitete, zärtlich von seinem Maiordomus Gänswein Tag und Nacht Umsorgte, mit dem Dreck im Vatikan ohnehin nicht fertig würde, dass er die letzten Kräfte seines siechen Körpers, gerade noch im Lehnstuhl sitzend, für das Diktieren theologischer Tiefsinnigkeiten, für Interviews mit seinem Dauerinterviewer Seewald aufbringen konnte.
Dass aber Benedikt XVI. keineswegs besser war als andere Päpste, dass er wie diese an der prostitutiven Liason der Kirche mit dem Staat und den »Mächtigen dieser Welt« nie gerüttelt hat, möchte ich hier an einem Detail unter vielen festmachen, an seinem pompös-luxuriösen Besuch des Freistaates Bayern, bei dem er, der vermeintlich Bescheidene, auf kein Privileg, keine Schenkung, keine Ehrung, keine Geldverschwendung seitens der staatlichen Stellen zugunsten seiner selbst und der Kirche zu verzichten bereit war, sich vielmehr wie ein König von prominenten Politikern und hohem Adel feiern ließ, natürlich wiederum „nur“ zur größeren Ehre Gottes!
Man kann sich kaum einen größeren Gegensatz vorstellen als den zwischen dem schlicht auf einem Esel in Jerusalem einreitenden Jesus der Evangelien, der diese symbolische messianische Aktion am Ende mit seinem Leben bezahlt, das ihm die Obrigkeiten seines Landes, der römische Prokurator und die jüdischen Hohenpriester, in vereinter Staats- und Religionsfürsorge genommen haben, und dem Bayernbesuch des Ratzinger-Papstes im September 2006 unter der Sonne des größtmöglichen Wohlwollens und enorm aufwendigen Staatsschutzes seitens der Obrigkeiten des Freistaates Bayern. Jesus hatte den Staat, die Obrigkeiten gegen sich – der Papst hat sie für sich; jener wird von der Obrigkeit verfolgt – dieser von ihr kostspieligst beschützt und gehätschelt als oberstes Symbol ihrer Macht und Stabilisierungsfaktor ihrer Legitimität; für jenen wird kein Aufwand betrieben – für diesen ein in die Millionen gehender, bei dem keine Kosten gescheut werden („man gönnt ja den steuerzahlenden Bürgern, die dafür aufkommen müssen, auch sonst nichts!“). Warum sollte man also hier sparen, wo doch der Nachfolger der römischen Imperatoren und des höchsten Religionspriesters des antiken Roms, der Pontifex Maximus, in nicht weniger aufwendigen, protzigen Gewändern als damals diese in die bayrische Provinz kommt.
Die in den Evangelien geschilderte Armut Jesu, seine Absage an Prunk, Kult, Liturgie, Weltherrschaft und Luxus, seine Heimatlosigkeit, sein Außenseitertum, seine Ablehnung jeglicher Liaison mit den herrschenden Mächten, seine Hinwendung zu den zu kurz Gekommenen und Unterdrückten betrachteten seine Anhänger als Symbolelemente und Symbolfiguren der tieferen Sinnwahrheit und Hoffnung, dass wahrer Glaube auf äußere Macht verzichten könne, dass sich die innere Qualität der Botschaft ihres Meisters ohne die Hilfe der sonst stets auf dieser Erde praktizierten Herrschaftsmethoden durchsetzen werde, auch ohne alle Privilegierungen durch die gerade an der Macht befindlichen Staatsmänner.
Über diese „Ideologie‘“ der frühen Christen können die im Vatikan, können die Päpste und auch Papst Benedikt XVI. nur überlegen lächeln. Sie halten den auf jede Macht verzichtenden Jesus und dessen frühe Anhänger für Trottel, günstigstenfalls für Naivlinge, die die Mechanismen der Macht nicht durchschaut, die nicht kapiert hätten, dass keine Religion ohne weltliche Stützen und Geldzuwendungen bestehen kann. Wer nicht glauben kann, dass die Herren im Vatikan so denken, der sehe sich die durchgehende Kontinuität der zahllosen Bündnisse von Thron und Alter in der Kirchengeschichte seit 16 Jahrhunderten an. Und wenn ihm das zu mühsam erscheint, dann lasse er die hier ausgebreiteten nachfolgenden Beobachtungen über die Bayernreise Benedikts XVI. vor seinen Augen Revue passieren, denn allein schon diese Reise ist der schroffste, krasseste Gegensatz zu der „Ideologie“ der frühen Christen.
Man wird auch anhand dieser Reise nochmals besser verstehen, warum es den Regierenden so sehr daran liegt, in ihrem Staat vom Papst, dem „Vater der Menschheit“, besucht zu werden; warum auch der Bayernbesuch des Ratzinger-Papstes von der bayerischen Regierung so überdimensional pompös und aufwändig organisiert wurde.
In den sog. Seligpreisungen und Weherufen des Evangeliums heißt es: „Selig, ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes“ (Lk. 6,20), das ja bei Jesus diesseitig, nicht jenseitig gedacht war. Wie sollte ein Ratzinger-Papst einen solchen Satz aussprechen können, wo doch bei seiner Regensburger Vorlesung, Höhepunkt seines Bayernbesuchs, nur finanzstarke und einflussreiche, sorgfältig ausgesuchte Honoratioren aus Gesellschaft, Wirtschaft, Adel und Politik im Saal anwesend waren? Arme waren da nicht erwünscht, sondern eben nur staatstragende Elemente, entsprechend der Tatsache, dass hier der höchste Priester der staatstragendsten Religion des Erdkreises seine erhabenen Gedanken über den Gott der Vernunft vortrug, einen Gott, der selbstredend auch so vernünftig ist, seiner Kirche die profitable Ehe mit dem Staat zu gebieten.
Was Ratzinger von den Armen hält, hat er überdeutlich und dokumentarisch klargemacht: Er hat die Priester und Theologen, die sich für die Befreiung der Armen in Südamerika und Südostasien aus Verhältnissen unvorstellbarer Unterdrückung und Ausbeutung einsetzten, gemaßregelt, suspendiert, unter Rede-, Schreib- und Berufsverbot gestellt.
Was der Ratzinger-Papst über die Armen denkt, könnte man so ausdrücken: Sie haben Gott, und das ist mehr als alles andere. Die „armen“ Reichen aber müssen mühselig die Güter dieser Erde verwalten, damit die gottgegebene Ordnung aufrechterhalten bleibt. Ihre Aufgabe ist also im Grunde viel schwerer als die der Armen, die sich nur um ein gutes Gottesverhältnis zu kümmern haben. Ist das eine zu zynische Interpretation der Gedanken Ratzingers zu diesem Thema? Der Leser vergleiche meine Auslegung mit dem, was Ratzinger selbst wortwörtlich sagt: „Das Merkwürdige ist, dass gerade bei den Armen ... der Hunger nach Gott sehr groß ist. Sie sind keineswegs der Meinung so vieler Europäer, zuerst müsse das Irdische geklärt werden, dann könne man auch über Dinge wie die Gottesfrage reden.“
Der Ratzinger-Papst weiß natürlich, was Sache ist. Es lässt sich viel leichter über einen Gott reden, der so vernünftig ist, dass er die bestehende Ordnung nicht antastet, als über einen Jesus, der im Lukasevangelium die harten Worte ausspricht: „Aber weh euch, die ihr reich seid; denn ihr habt keinen Trost mehr zu erwarten. Weh euch, die ihr jetzt satt seid; denn ihr werdet hungern“ (Lk. 6,24f).
Die Papstreise durch Bayern im September 2006 bestätigt in allen Hinsichten und selbst in kleinsten Details die von den Päpsten stets durchgehaltene Option für die Reichen und Mächtigen sowie für den Staat, soweit er die Vorrechte der Kirche garantiere. Nichts war dem Freistaat Bayern zu teuer, nichts zu aufwendig, nichts zu kostenintensiv, als es galt, das römische Oberhaupt der deutschen Staatskirche so glanzvoll wie möglich zu empfangen. Zwar „will durchaus das wichtigste Tier auf Erden der Staat sein“ , sagt Nietzsche, aber er will es nicht ohne die Staatsreligion Kirche, weil diese die Gehorsamsideologie für die Bürger des Staates liefern soll.
Die Papst-Schäfchen hält man also arm, den Papst selbst aber reich, weil er und die von ihm präsidierte Institution ja sonst nicht ihre Mission für den Staat zu erfüllen bereit wäre. Die Kosten des Staatsbesuchs Benedikts XVI. in Bayern waren so enorm, dass sich Bayerns Regierende über die Höhe dieser Kosten bis heute lieber ausschweigen. Aber es genügt die Aufzählung dessen, was alles für den Papst-Besuch bereitet, gerichtet, gebaut, verschönt, verboten, gesperrt, umgeleitet, überklebt etc. pp. wurde, um auf eine Unkostensumme zwischen 70 und 100 Millionen Euro zu kommen. Man denke allein an die Sicherheitsvorkehrungen, die Polizeieinsätze für den Schutz des Papstes, denn ohne tausendfache Vorsichtsmaßnahmen reitet nur ein Jesus (auf einem Esel) in eine Stadt (Jerusalem) ein, aber doch nicht sein angeblicher Stellvertreter, dessen Leben offenbar tausendmal wichtiger ist als das seines Meisters. Der Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei in Bayern, Harald Schneider, sprach von 50 Millionen Euro allein für diese Sicherheitsmaßnahmen rund um den Bayernbesuch des Papstes und steckte dafür Rüffel von höchster Behördenseite ein, übrigens auch dafür, dass er im Anblick dieser Summe geradezu gotteslästerlich empfohlen hatte, dann doch lieber die den Papst unbedingt sehen Wollenden mit dem Pilgerzug nach Rom zu transportieren. »Pfui!« schrieen ihm da einige fromme und sonst ganz brave Gemüter per Telefon entgegen, einige sogar drohten – natürlich nur aus richtig verstandener Nächstenliebe, die der »Caritas«-Papst Ratzinger doch so empfiehlt – mit der ewigen Höllenstrafe.
Der Papst besuchte drei bayerische Städte, München, Altötting und Regensburg, dazu noch seinen Geburtsort Marktl am Inn. Das bedeutete: viermal immer neue Sicherheitsvorkehrungen und Polizeieinsätze. War es die Angst des Papstes selbst oder die der vatikanischen Planer der Reise oder nur die der staatlichen Stellen? Jedenfalls bezog sich der kostspielige Aufwand für den Papstbesuch sogar auf die Verschweißung von Kanaldeckeln in Regensburg und auf die Errichtung zahlreicher Sperrzonen in den besagten Städten. Nicht auszudenken, wenn irgendein Vertreter der »Kirche von unten« aus einer Kanalöffnung gekrochen wäre und vom Papst den Dialog gefordert hätte, den er ihr wie sein Vorgänger Wojtyla beharrlich verweigert. Mit Habermas diskutiert Ratzinger, aber doch nicht mit den Parias seiner Kirche! Aber die treten dennoch nicht aus der Kirche aus. Eine Nano-Dosis Sklavenblut schleppt selbst noch der aufmüpfigste Katholik in seinen Adern mit!
Aber auch aus einem Güterzug kann ja ein dem Papst übel Gesinnter herausspringen. Also setzten sich die Behörden locker über die enormen volkswirtschaftlichen Einbußen hinweg und hielten auf der langen Strecke zwischen Frankfurt und Wien einen ganzen Tag lang alle Güterzüge auf. Nachdem man einmal diesen Weg des Irrsinns beschritten hatte, kannte man kein Zurück mehr: S-Bahn-Linien und Nahverkehrszüge in den Großräumen München und Regensburg wurden teils gesperrt, teils umgeleitet, teils nur im Einbahnverkehr zugelassen. Viele Pendler konnten ihre Arbeitsplätze nicht erreichen. Der ADAC warnte vergeblich: Die A3 bei Regensburg, eine wichtige Autobahnstrecke, wurde trotzdem für einen Tag einfach gesperrt. Die Bürger von Regensburg und der umliegenden Dörfer, die deswegen eine enorme Abgas- und Lärmbelästigung in Kauf nehmen mussten, waren »denen da oben« nicht so wichtig wie der greise Papst. Quälten sich doch wegen der Sperrung der Autobahn Tausende von Lastwagen durch Stadt und Dorf. »Alles zur größeren Ehre Gottes!« Der wollte sich natürlich auch Innenminister Beckstein, ohnehin evangelischer Synodaler, also von der benachbarten Zunft, nicht verschließen. Als selbst behördenintern Bedenken gegen die Sperrung der Autobahn aufkamen, sprach er sein Machtwort. Es blieb bei der Sperrung.
Der Papst hätte ja ein Einsehen haben können, aber das Gegenteil war der Fall. Er setzte noch eins drauf und bestand darauf, ausgerechnet am Samstag Nachmittag zur besten Geschäftszeit auf dem Marienplatz ein Gebet zu sprechen – mitten in der Fußgängerzone! Fast die ganze Münchner Innenstadt durch „Pilger“ überschwemmt, durch Sicherheitsvorkehrungen eingeschnürt! Die Verluste, die die Münchner Geschäftsleute durch die Gebetsaktion des Papstes erlitten, wird ihnen niemand ersetzen. Pilger sind keine Konsumenten. An ihnen „ist nichts zu verdienen, die bringen ihre Brotzeit mit“ – so gab die »Süddeutsche Zeitung« die diesbezügliche Meinung der Wirtschaftsverbände wieder. Und die Verluste waren beträchtlich, weil der besagte Samstag in den Sommerschlussverkauf am Ende der Ferien in Bayern fiel.
Es wurde eine gewaltige Maschinerie ins Werk gesetzt, um alle Journalisten nach allen Regeln der geheimdienstlichen Kunst zu kontrollieren, damit ja auch keiner durch die Maschen des „Gesetzes“ schlüpft und etwa dem „Heiligen“ Vater am Zeug flickt oder gar sein Leben bedroht. Die Sicherheitsbehörden nahmen ohne Ausnahme jeden Medienvertreter strengstens unter die Lupe. Er musste – das war noch das Harmloseste – ein sauberes polizeiliches Führungszeugnis vorlegen. Aber er hatte auch vorsorglich auf laufende und sogar bereits abgeschlossene Ermittlungsverfahren gegen sich hinzuweisen, weil die Sicherheitsüberprüfung dieser Verfahren durch Landes- und Bundeskriminalamt (LKA, BKA) zu einer »negativen Empfehlung« und der Nichterteilung der Akkreditierung führen konnte. Selbst wenn ein Medienvertreter darauf aufmerksam machen konnte, dass das Verfahren gegen ihn eingestellt worden war oder ohne Verurteilung beendet wurde, war er nicht aus dem Schneider. Das werde trotzdem bei der Frage der Akkreditierung auch berücksichtigt, bedeutete man ihm.
Der bürokratische Aufwand war enorm. Die Kriminalämter hatten die Daten aller Medienvertreter, die für den Papstbesuch akkreditiert werden wollten, mit verschiedenen polizeilichen Dateien abzugleichen, jenen Dateien, die für Zwecke der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung geführt werden. Dabei wurden auch Informationen verwertet, die gar nicht im Bundeszentralregister, wohl aber in diesen polizeilichen Dateien stehen. Beim bayerischen Landeskriminalamt hatte man jedoch „mit den Daten der Journalisten offenbar (sogar) noch mehr vor, worüber man aber nicht reden möchte. Mit dem Verweis auf den ‚Datenschutz‘ verweigert LKA-Sprecher Ludwig Waldinger jedenfalls nähere Angaben zum amtsinternen Prüfverfahren der bayerischen Ermittler. Was in die ‚Zuverlässigkeitsprüfung‘ einfließt, ‚werde ich Ihnen nicht sagen‘, so Waldinger.“ Es bedarf schon einer extraordinären Phantasie, um sich noch Raffinierteres bei der einstigen Zuverlässigkeitsüberprüfung der Volksgenossen durch die Nazis vorstellen zu können! Der alles umfassende, alles durchdringende Orwellsche Schnüffelstaat der beiden »Big Brothers«, Staat und Kirche, feierte beim Bayernbesuch des Ratzinger-Papstes glänzende Triumphe! Jedenfalls wurden die Daten der Medienvertreter auch mit dem »Nachrichtendienstlichen Informationssystem« der Geheimdienste abgeglichen. Das Prädikat »Lückenlose Auskundschaftung« war im höchsten Maß angebracht!
Die Freiheit der Journalisten, könnte man zynischerweise sagen, blieb dennoch gewahrt. Sie konnten ja auf die Berichterstattung über den Papstbesuch in Bayern verzichten und folglich eventuell ihren Arbeitsplatz verlieren. Eiskalt erklärte das Erzbischöfliche Ordinariat München, dass eine Akkreditierung nicht erfolgen könne, wenn ein Journalist die Zuverlässigkeitsprüfung nicht über sich ergehen lassen wolle, wenn er in die Weitergabe und Verarbeitung seiner Daten nicht einwillige. Eiskalt auch die Nichtbeantwortung der Frage, die an das Erzbischöfliche Ordinariat gerichtet worden war, was denn zur Versagung der Akkreditierung führen könnte. Schweigen! Schweigen auch über die Gründe, wenn einer der Medienvertreter allen Überprüfungen zustimmte und dennoch nicht akkreditiert wurde. Pech gehabt! Aber kein Recht, irgendetwas zu erfahren!
Frauke Ancker, Geschäftsführerin des Bayerischen Journalistenverbands (BJV), kritisierte die staatskirchlichen Recherchiermethoden im Zusammenhang mit dem Papstbesuch in Bayern als „völlig überzogen“, erwog sogar eine Klage: „Wir würden sehr gerne einmal dagegen klagen.“ Aber welcher Richter in Bayern hätte schon den Mut, ein Urteil gegen die übermächtige staatskirchlich-bayerische Allianz zu sprechen?
Die Kirchenvertreter hatten mit alledem keinerlei Probleme. Der Sprecher der Diözese Regensburg, Phillip Hockerts: „Wenn US-Präsident George W. Bush nach Stralsund kommt, müssen (doch) auch das Land und der Bund die Kosten übernehmen“ und eben auch alle Maßnahmen für die Sicherheit des hohen Gastes. Immerhin handele es sich beim Papst um ein „Staatsoberhaupt“. Kurios! Man stelle sich den Jesus, wie ihn die Evangelien schildern, als »Staatsoberhaupt« vor. Stattdessen wurde er vom Staat hingerichtet. Sein vermeintlicher Stellvertreter und „Nachfolger“ aber hat es weit gebracht! Er ist einfach auf die andere Seite übergewechselt. Jetzt steht er an der Spitze eines Staates, der zwar klein, aber milliardenschwer ist und sich der Unterstützung der meisten Staaten sicher sein kann. Eine Verfolgung, geschweige Hinrichtung, droht seinem Staatsoberhaupt nicht! Wie sehr hat doch Dostojewski recht behalten, als er in »Die Brüder Karamasow« zeigte, dass und wie die Kirche ihre Seele an die Macht verkaufte, damit zu einem Staat nach dem Muster aller anderen Staaten avancierte, aber, mit Privilegien vollgefressen, keine echte Spiritualität mehr zu beheimaten und auszustrahlen vermag. Der Papst, der die Liebe, die »Caritas« und die »Agape«, ständig im Munde führte, hatte nicht die geringste Barmherzigkeit für die Bürger, die gläubigen wie die ungläubigen, die ja für den ganzen Papstzauber aufkommen müssen, denn der Freistaat Bayern zahlt zwar verschwenderisch, holt sich’s aber wieder von seinen Untertanen zurück. Wenn alle Stricke reißen, muss halt wieder eine Reform her.
Wir sehen wieder: Auf allen Ebenen, in allen Hinsichten braucht der Staat die Kirche, die Kirche den Staat. Eine ideale, perfekte Kooperation! Mit einem einzigen Schönheitsfehler: Die Zeche zahlt der Bürger. Aber das tut den obersten Herren beider Institutionen nicht weh. „Demokratie ist die Kunst, dem Volk im Namen des Volkes feierlich das Fell über die Ohren zu ziehen“ (K. H. Deschner).
Es fällt dann kaum mehr ins Gewicht bei all dem Geklotze, wenn man dazu noch ein bisschen kleckert. Was sind schon angesichts der vielen Millionen für den »Staatsbesuch« Ratzingers in Bayern die „kümmerlichen“ 500.000 Euro für die Streichung der Fassaden der Uni Regensburg, die der Papst bei seinem Besuch passieren sollte. Zwar gibt es inzwischen einen echten Bildungsnotstand an den Universitäten, überfüllte Hörsäle, Geldknappheit an allen Ecken und Enden, auch Löcher in den Dächern einiger Gebäude der Uni Regensburg, aber „wichtiger“ war da doch, dass das vatikanische Staatsoberhaupt einen guten (wenn auch falschen, der Wahrheit nicht entsprechenden) Eindruck bekam. Ratzinger, der erste Fassadenstreicher seiner Kirche, hatte vollstes Verständnis dafür, dass auch der Staat bisweilen nur die Fassaden seiner Universitäten putzt und die massiven Defizite dahinter unangetastet lässt.
Für einen Papst der wirklichen Liebe für die vernachlässigten Kinder dieser Erde, der die fortlaufenden Kürzungen in allen Sozialbereichen durch den Staat und die dem Bürger durch seinen eigenen Staatsbesuch auferlegten Kosten mit fühlendem Herzen empfunden hätte, wäre es ein Leichtes gewesen, seinen Reiseplan anders zu gestalten, etwa so, wie es ein Leserbrief an die »Süddeutsche Zeitung« beschrieb: „Man wagt es kaum mehr zu träumen, aber die Papstreise hätte auch ganz anders verlaufen können. Eine Reise in einem Zweite-Klasse-Abteil von Rom nach München oder wenigstens von München nach Altötting und Regensburg hätte Zeit zu Gesprächen mit anderen Zugreisenden gegeben. Statt zu dozieren, zu richten und zu predigen hätte der Papst einmal zuhören und erfahren können – der Glaube kommt vom Hören -, was die Menschen heute wirklich beschäftigt. Er hätte sich dabei von Gandhi leiten lassen können, der im Zug Indien durchreist hat, um sein Volk besser kennen zu lernen. In München angekommen, hätte Josef Ratzinger dann gleich – auf einem (Draht)-Esel wie Jesus – die ‚Armen und Bedrängten‘ aufsuchen können: zum Beispiel in Gefängnissen, Obdachlosen- und Altenheimen und Aidshospizen. Die circa 60 Papamobile wären zugunsten dieser Armen versteigert worden. Mit Hartz-IV-Empfängern hätte sich Papst Benedikt in einem Münchner Biergarten über die zunehmende Verarmung breiter Bevölkerungsschichten und die Auswirkungen des Neoliberalismus unterhalten können. Und warum nicht auch zusammen mit einigen arbeitslosen Damen aus dem Rotlichtmilieu? Der, als dessen Stellvertreter er sich bezeichnet, hatte es zumindest so gehalten. Auch den Sicherheitsbeamten hätte er etwas Gutes tun können, indem er sie nach Hause zu ihren Lieben geschickt hätte. Er wäre immer noch weniger gefährdet gewesen als sein Meister.“
Aber auch 100 Millionen für den Bayern-Besuch Benedikts sind an sich nichts im Vergleich zum Reichtum der Kirchen in Deutschland. Ein großherziger Papst, ja ein auch nur einigermaßen gerecht denkender hätte angesichts der wachsenden Armut in Deutschland und der Engpässe in den Staatskassen auf die Staatszuschüsse verzichten und seine Bayernreise mit kircheneigenem Geld finanzieren können. „Sparen, sparen, sparen, denn der Staat ist klamm. Wo immer es irgendwie geht, wird gestrichen. Nur eins bleibt heilig – im wahrsten Sinne des Wortes -: die Kirche, das reichste Unternehmen der Republik. Experten schätzen ihr Gesamtvermögen auf fast eine halbe Billion Euro ... bei Finanzen oder im Arbeitsrecht (gilt): Der Staat hat’s gegeben, die Kirche lässt sich’s nicht nehmen.“
Die Schamlosigkeit, mit der sich die Kirche die Bayernreise des Papstes mit einem gewaltigen Kostenaufwand seitens des Staates ermöglichen ließ, wird noch durch die Tatsache gesteigert, dass Bayern ohnehin schon jährlich viele Millionen für die kirchlichen Würdenträger aufbringt. Die Gehälter seiner sieben Bischöfe und Erzbischöfe zahlt nicht etwa die Kirche, sondern brav, ergeben, von Herzen und komplett Jahr für Jahr der Freistaat Bayern. Im Jahr 2002 waren das immerhin 655.000 Euro. Damit nicht genug. Es gab auch noch Zulagen für 12 Weihbischöfe (= 99.000 Euro), Gehälter für 14 Dignitäre (= 737.000 Euro), für 60 Kanoniker (= 3.914.000 Euro). „Endlos die staatlich finanzierte Lohnliste des Kirchenpersonals. Selbst Weihrauch wird vom Staat bezahlt. Die Gesamtsumme der Zahlungen des Staates an die beiden großen Kirchen in Bayern: über 85 Millionen Euro im Jahr 2002, genauer: 85.932.000 Euro. Und so geht das jährlich weiter, endlos!“
Politisch verantwortliche Minister oder Staatssekretäre stehen für Fragen zu diesen horrenden Zahlungen des Freistaats Bayern an die Kirchen nicht zur Verfügung. Die TV-Mitarbeiter, die für die »Panorama«-Sendung vom 17.10.2002 ermittelten, pochten vergeblich an deren Türen. „Der einzige, der sich für zuständig erklärte und der nicht krank war oder aus Termingründen leider verhindert – ein Beamter. Und der stellt ganz nüchtern fest, dass das, was er da treibt, eigentlich verfassungswidrig ist.“
Wie steht es eigentlich um das Gewissen bayerischer Bischöfe, die ein Gehalt von mindestens 7.500 Euro monatlich von gläubigen und nichtgläubigen Steuerzahlern auf dem Weg über den Staat beziehen? Wie um das Gewissen Ratzingers, der ja als Münchner Erzbischof etwa 10.000 Euro monatlich bezog, wohlgemerkt von solchen, die nicht einmal an ein Zehntel seines Gehalts heranreichten? Es geht eben nichts über die sture Ruhe eines katholischen Gewissens. Da ist alles, und besonders für Papst und Bischöfe, von Gott gnädiglich gefügt. Und wenn tatsächlich mal Skrupel auftauchen ... Wozu hat man denn die Beichte, diesen bequemen Ethik-Ersatz, reserviert nur für Katholiken?
Geradezu nonchalant sah der Papst bei seinem Besuch des Freistaates darüber hinweg, dass die Bundesrepublik Deutschland pro Jahr Subventionen in Höhe von mindestens 14 Milliarden Euro an die Kirchen zahlt. Wohlgemerkt: Das sind nicht die neun Milliarden Euro an Kirchensteuern, die der Staat für die beiden Großkirchen einzieht. Auch nicht die zehn Milliarden Euro, die der Staat jährlich an die kirchlichen Sozialeinrichtungen zahlt, die er mit weit über 90 % finanziert, die Kirche selbst lediglich mit 7 bis 9 %. Die 14 Milliarden sind Gelder, die der Staat dem Bürger stiehlt, um sie der reichen Kirche in den unersättlichen Schlund zu werfen. Mit dem »Bürger« sind alle Bürger der Bundesrepublik gemeint: Muslime, Juden, Atheisten, Agnostiker, Konfessionslose, alle durch die Bank.
Es ist ebenfalls ein Skandal, dass die Kirche, die in Deutschland nach dem Staat der größte Grundbesitzer ist (geschätztes Gesamtvermögen: 500 Milliarden Euro), für ihre theologischen Fakultäten nicht selber aufkommt, sondern sich auch diese vom Staat bezahlen lässt. Etwa 620 Millionen Euro pro Jahr lässt es sich der Staat kosten, dass Dogmatikprofessoren die abstrusen Dogmen der Kirche an den Universitäten „wissenschaftlich“ kommentieren und begründen; dass Moraltheologen den Studenten „beweisen“, dass es die Erbsünde gibt und es deshalb auch Sünde ist, wenn das „schwache Fleisch“ vor- oder außerehelichen Geschlechtsverkehr vollzieht; dass aber der katholische aidskranke Ehepartner keine Sünde begeht, wenn er ohne Kondom mit seiner Frau schläft. Denn Kondome sind nun mal von der Papstkirche offiziell nicht gern gesehen.
Aber Ratzinger wäre nicht Ratzinger gewesen, wenn er das Belassen beim Alten nicht „wissenschaftlich-neu“ begründet hätte. Es ist die alte Heuchelei der Kirche, die den Reichtum und die Macht kritisiert, aber in Wirklichkeit mit ihnen paktiert. Für die Armen und die vermeintlich hoch über dem Materialismus stehende Spiritualität der Kirche bleiben nur schöne Worte. So hatte Benedikt während seines Deutschlandbesuchs in seiner Rede in Freiburg eine größere „Entweltlichung“ der Kirche gefordert. Er habe diese sowieso schon, betonte er in seinem letzten Gespräch mit dem Journalisten Peter Seewald, Ende der fünfziger Jahre angemahnt. Ja, er geißelt geradezu in diesem Gespräch die „ungeistliche Bürokratie“ in der Kirche, vor allem in Deutschland, und die zu geringe „Dynamik des Glaubens“. Er beanstandet die hohe Zahl bezahlter Kirchenmitarbeiter. „In Deutschland haben wir diesen etablierten und hochbezahlten Katholizismus, vielfach mit angestellten Katholiken, die dann der Kirche in einer Gewerkschaftsmentalität gegenübertreten“. Der Altmeister der schönen Worte, der sich stets von den Reichen hofieren und seinen Worten niemals praktische Konsequenzen folgen ließ, kritisierte sogar die Haltung seiner deutschen Amtsbrüder, die unter dem Motto steht: „Wer keine Kirchensteuer zahlt, kann kein Mitglied der Kirche sein: Die automatische Exkommunikation derer, die sie nicht zahlen, ist meiner Meinung nach nicht haltbar.“ Aber wenn es ums Geld geht, ist in Deutschland sogar Widerstand gegen den Papst möglich. Sofort konterte der Präsident des Zentralkomitees deutscher Katholiken Thomas Sternberg eiskalt: „Es gehört zur Mitgliedschaft der Kirche, dass man auch diese Zahlung der Beiträge leistet“. Und im übrigen, so Sternberg, könne er die Kritik Benedikts „in dieser Pauschalität nicht verstehen“. Wir sind ja auch bereits Zeuge der Tatsache, dass Papst Franziskus trotz seiner noch weit intensiveren Propagierung der Würde der Armen gegen das Kirchensteuergehabe der deutschen Kirchenfiliale nichts unternimmt.
Benedikt, der „Entweltlicher“, „Vergeistiger“ seiner Kirche, hat aber während seiner Amtszeit auch nichts gegen die Zahlungen des Staates an die Kirchen für deren Religionsunterricht unternommen. Der Staat zahlt für ihn die gewaltige Summe von etwa zwei Milliarden und 450 Millionen Euro pro Jahr, obwohl sich hier die Misere der Theologie und theologischen Fakultäten wiederholt, sowohl inhaltlich bezüglich der Irrationalität der Glaubensinhalte als auch strukturell in Bezug auf den Dualismus eines katholisch und eines evangelisch gelehrten „christlichen“ Religionsunterrichts. Kopf und Gemüt der Kinder und Jugendlichen können da nur verwirrt werden, wenn jede der Konfessionen »ihre« Wahrheit lehrt und diese als einzig christliche hinstellt. Doch viele Religionslehrer stellen ja inzwischen die Wahrheitsfrage zurück. Aber dann stellt sich um so dringlicher die Frage: Wozu ein zweigleisiger Religionsunterricht, für den der Staat doppelt zahlen muss? Die einzige rationale Lösung wäre ein Ethik- und Religionskunde-Unterricht für alle Schüler, unabhängig von Religion und Konfession. Aber dagegen laufen die Kirchen Sturm, und der Staat knickt ein, außer in Berlin, wo es dem Senat gelang, diesen Unterricht als Pflichtfach trotz heftigster Proteste und Prozesse der Kirchen endlich durchzudrücken.
Wie gesagt, der Ratzinger-Papst lamentiert ja immer wieder über den um sich greifenden Relativismus und Materialismus der Menschen als ärgsten Feind der Entwicklung von Geistigkeit und Spiritualität. Dass seine Kirche mehr als alle anderen in diesen Materialismus verstrickt ist, sagt er nicht. Was wäre das doch für ein Großereignis echter Spiritualität und Materialismusüberwindung geworden, wenn der nach Deutschland, genauer nach Bayern gekommene Papst erklärt hätte: „Lieber Staat, liebes Bayern, wir haben Geld genug, werft es nicht mehr in unseren Rachen, wie Ihr es seit Jahrhunderten getan habt, sondern gebt es den Armen, den Obdachlosen, den sozial Schwachen, den Hartz IV-Empfängern oder auch den Menschen in den wirtschaftlich unterentwickelten Ländern“. Das wäre praktizierte Spiritualität und Religiosität gewesen. In jedem anderen Fall ist Religion nämlich wirklich »Opium des Volks« (Karl Marx). In Zukunft sollte man die Kirche nicht mehr an ihren heuchlerischen Worten der Liebe und des Mitleids für die Armen, sondern nur noch am einzig echten Kriterium messen, der Frage der Bereitschaft zum Verzicht auf ihre einzigartigen finanziellen Privilegien im Kirchenstaat Deutschland und anderen Staaten der Welt.
Beenden wir mit nur noch einer Episode die das herzliche Einvernehmen von Staat und Kirche besonders anschaulich demonstrierende Bayern-Reise Benedikts. Ein „wunderbares“ Symbol der einträchtigen und wenigstens für die Kirche einträglichen Partnerschaft von Kirche und Staat war die Art, wie man den per Hubschrauber von München her einfliegenden Papst auf dem Sportplatz von Altötting empfing und die Honoratiorenblöcke A + B angeordnet und aufeinander abgestimmt hatte. Block A bildete natürlich die Kirche: Drei Dutzend Kardinäle, Bischöfe, Erz- und Weihbischöfe, Block B der Staat, repräsentiert durch Stoiber und drei bayerische Landesminister, den Landtagspräsidenten, aber auch den Bundesverteidigungsminister und den Generalinspekteur der Bundeswehr. Und auch Ratzingers heimliche Liebe, die Adligen, durften natürlich nicht fehlen, allen voran Herzog Franz von Bayern; auf 63 Stühlen hatte sich praktisch das ganze Haus Wittelsbach breitgemacht (Reihe 6 – 9); zwei weitere Reihen waren für den weniger prominenten Adel reserviert. Das Volk durfte stehen, gaffen und ehrfürchtig bewundern!
Und auch in Marktl am Inn, wo der Papst vorher war, hatten die Behörden dafür gesorgt, dass Ehrfurcht herrschte. Nur 2.150 Personen ließen die Behörden auf dem Marktplatz zu, darunter natürlich Fürstin Gloria von Thurn und Taxis und den kleinen Mann, der uns die Renten „so sicher“ machte: Norbert Blüm, der einst bei Ratzinger Theologie studierte und jetzt sein hochkarätiges Ruhegehalt genießt; daneben aber war auch Halbprominenz zu sehen, etwa der Bruder von Thomas Gottschalk, der selbst sicher auch gern gekommen wäre, wo er doch eine katholische Journalistenschule besucht hat. Man weiß ja, wem man etwas verdankt, und Wohlverhalten gegenüber der Kirche bringt doch jedermanns Karriere in Deutschland weiter!
Soweit ich sehe, hat nur ein einziger Theologe die total unchristliche, dem Geist des Meisters absolut widersprechende Vermengung von Staatlichem und Kirchlichem beim Bayernbesuch des Papstes beanstandet: Michael Plathow, der Leiter des Konfessionskundlichen Instituts in Bensheim. Dass sich der Papst als Kirchen- und Staatsoberhaupt zugleich feiern lasse, sei „Ausdruck einer Vermischung von geistlichem und weltlichem Regiment.“
Mit den devoten Politikern konnte also der Ratzinger-Papst bei seinem Besuch in Bayern zufrieden sein, nicht nur in München, sondern auch in Altötting, wo er sich denn auch nach der ganzen Politiker-Schwärmerei für ihn entspannt und erfreut ins Kapuziner-Kloster (Konvent St. Magdalena) zurückziehen konnte, um sich dort derb-bajuwarisch, keineswegs spirituell, Schweinebraten mit Semmelknödeln servieren und munden zu lassen. Die Kapuziner, Jünger des hl. Franz von Assisi wie die Franziskaner, aber von angeblich strengerer Observanz, behaupten zwar, dem Vorbild des Heiligen radikaler nachzufolgen als diese, halten jedoch von dessen Liebe zu den Tieren und seiner Ablehnung der Tiertötung und des Fleischgenusses rein gar nichts; ebenso wenig wie Ratzinger selbst und die 2000 geladenen Gäste, die sich den Braten zusammen mit einem Silvaner bzw. einem Rotwein, geliefert aus dem Weingut Johann Ruck in Iphofen, schmecken ließen. Was ein waschechter bayerischer Katholik ist, und als solcher fühlt sich Ratzinger (deswegen wollte er auch bei seinem zweiten Besuch nicht mehr nach Deutschland, sondern nur noch nach Bayern), der weiß genau, dass Gott die gesamte Natur nur für ihn, zu seinem Nutzen und Genuss, geschaffen hat. Dem Hasen oder Schwein könne doch gar nichts Besseres passieren als vom Menschen gejagt, geschlachtet und gegessen zu werden, denn damit erfüllten sie ihren ganzen Daseinszweck. Das ist theologische Anthropozentrik, nein: Egozentrik pur! Und sie stammt aus dem Mund Benedikts, als er noch an der Uni seine Weisheiten zum Besten gab.
Kommen wir zum Pontifikat des Bergoglio-Papstes. Es lässt sich kaum ein größerer Gegensatz denken als der zwischen dessen Naturell und dem Ratzingers. Hier der deutsche Theologe, der in seinem künstlichen Sprachspiel mit dessen strengen Regeln, dogmatischen Definitionen und Formulierungen sich mehr zu Hause fühlt als in der nie auf einen einzigen Nenner zu bringenden Gesellschaft und Lebenswirklichkeit. Dort der Italo-Argentinier mit echt südländischem Temperament, dem inzwischen keine Formel, kein Paragraph so wichtig erscheint wie der fast kumpelhafte, hautnahe Kontakt mit den Menschen in aller Welt. Zwar hatte auch Bergoglio eine Reihe theologischer Publikationen verfasst, die aber nur als „unter ferner liefen“ innerhalb der immensen Produktion kirchlicher Erbauungsliteratur gelten können und den Standards westeuropäischer Universitätstheologie in keiner Weise zu genügen vermögen. Bezeichnenderweise hatte er versucht, an der Jesuitenhochschule St. Georgen in Frankfurt eine theologische Dissertation zur Erreichung des Dr. theol. zustande zu bringen, brach aber dieses Unterfangen nach relativ kurzer Zeit ergebnislos ab.
Aber wie groß man auch den Unterschied zwischen Benedikt und Franziskus ansetzen wollte, feststeht, dass beide Päpste das oberste Gesetz der römisch-katholischen Kirche eint, das da lautet: »Right or wrong, my church«! Diesem Hauptexistenzprinzip der Kirche und des Papsttums fühlen sich beide bis in den innersten Kern ihres Wesens verpflichtet. Und man kann sicher sein, dass sie vom vatikanischen Geheimdienst und Denunziantenapparat auf Herz und Nieren geprüft worden sind, ehe sie ihr Papstamt antreten durften. Mögen auch ihre Strategien zur Wiedergewinnung der ganzen Welt für ihre Kirche noch so divergent erscheinen, das Ziel war und ist dasselbe.
Ratzinger verachtete im Grunde den Kontakt mit der Masse, wollte eine kirchliche Elite, die durch ihren Prunk und Protz, ihre monumentalen Gebäude, ihr spätantikes und mittelalterliches Zeremoniell, durch aufwändige Pontifikalmessen und Sakramentenliturgie die Massen beeindruckt, somit auch indirekten Einfluss auf die Politiker ausübt, weil diese ja die Stimmungen in der Masse der Bevölkerung registrieren und darauf reagieren müssen, um die nächsten Wahlen zu gewinnen.
Des jungen Ratzingers Erlebnis war die Begegnung mit dem im Glanz seiner Kardinalsmontur mit all seinen päpstlichen Orden an ihm vorbeirauschenden Münchner Erzbischof Faulhaber. Dieses Urerlebnis gab seine Lebensrichtung vor, prägte seine ganze weitere Berufung. „So einer wie der will ich auch einmal werden!“ Ja, Ratzinger wollte „die Stadt auf dem Berg“, das Licht in der Finsternis des gemeinen Volkes, die Strahlkraft elitärer Priester, die allmählich auch die Masse erfasst und höher bringt, ohne sich selbst zu sehr die Hände durch die Berührung mit den „Leuten“ schmutzig machen zu müssen. Diese Strategie ging nicht auf. Die Kirchen wurden immer leerer.
Es musste ein anderer her, einer mit einer anderen Strategie, aber demselben Ziel der Welteroberung. Dessen Erlebnis war ein ganz anderes. Aus dem Diözesanseminar für Weltpriester war er ausgezogen und dem Jesuitenorden beigetreten, weil ihm eines von dessen Hauptprinzipien „Missionierung, Gehorsam und Disziplin“ ungeheuer imponierte und er schon bald aufbrechen wollte, um Japan zum Christentum (sprich: zum katholisch-päpstlichen „Christentum“) zu bekehren. Also auch da war die Marschroute vorgezeichnet, nur mussten ganz andere Mittel als bei Ratzinger her, um dasselbe Ziel zu erreichen.
Theoretisch keine Leuchte, aber mit einer gehörigen Portion praktisch-diplomatischer Intelligenz ausgestattet, merkte Bergoglio/Franziskus instinktiv-intuitiv: Mit der katholischen Dogmatik, auch seinem eigenen hölzern-fundamentalistischen Ideologieballast ist heute kein Staat mehr zu machen, damit bekehrt man niemanden. Und Skrupel kannte der Jesuit Bergoglio sowieso nie. Nicht als er dem rechten Flügel der Peronisten beitrat, nicht als er als Erzbischof von Buenos Aires die grausam wütende argentinische Militärjunta hätte radikal kritisieren müssen, nicht als er das Papstamt annahm und damit das Prinzip des Jesuitenordens, dem Papst absolut, ohne Rücksicht auf die Moral stets zu dienen, aber nie selbst Papst zu werden, nonchalant durchbrach, als erster und einziger seit fast 600 Jahren, also seit der Gründung des Ordens! Nicht, als er dem Orden der Franziskaner ihren größten Heiligen und Ökologiepionier Franziskus wegschnappte, indem er sich als Papst den Namen dieses Ordensgründers selbst zulegte.
Und so wird jetzt auch die erstaunte Weltöffentlichkeit Zeugin eines Spektakels, in dem ein Papst wie keiner zuvor seine ganze Theologie und Dogmatik praktisch außer Kraft setzt und den Massen keine Belehrungen mehr, sondern nur noch eine Fülle von Gesten, Beschwörungen und Beteuerungen der Liebe und Güte, des Mitleids und der Barmherzigkeit, der Solidarität mit den Armen und Benachteiligten unserer Erde entgegenbringt.
So formvollendet vermag dieser Papst diese Szenerie abzuspulen, dass kaum jemand mehr danach fragt, was er denn angesichts des ungeheuren Landbesitzes der Kirche und der in die Billionen gehenden Musealschätze derselben praktisch-effektiv für die verarmten und verfolgten Menschenmassen getan hat bzw. tut.
Aber Respekt für seine Cleverness, wie er es fertigbringt, den Massenmedien weiszumachen, wie modern, ja postmodern, wie liberal und säkular er ist. Dem argentinischen Massen-Magazin Viva nennt er sein Glücksprogramm, seine zehn Punkte für ein garantiert glückliches Leben. Dogmen, Glaube, Lehren der Kirche: Fehlanzeige! Nichts davon steht in den Weisungen und Weisheiten dieses zum säkularistischen Guru performierten Pfaffen. Aber nicht vergessen: Er tritt bei solchen Aussagen trotzdem in der magisch-theologischen Gewandung des Papstes auf, und alle Schafe dieser Welt werden sein „Glücksprogramm“ für einen Beweis der neuen Liberalität, Weite und Aufgeschlossenheit der katholischen Kirche halten.
Die Weltumarmungsstrategie des Magiers auf dem Papstthrohn geht weiter: Im Gespräch mit dem Herausgeber der italienischen Tageszeitung La Repubblica, Eugenio Scalfari, lässt der Papst den Satz „Gott ist nicht katholisch“ fallen. Wenn dieser Satz wirklich ernst und ehrlich gemeint ist (was man von einer päpstlichen Aussage ja wohl erwarten darf), dann wäre das die Relativierung, Schwächung, ja Infragestellung von fast zwei Jahrtausenden katholischer Theologie, katholischer Gotteslehre und die Eröffnung und Ermöglichung eines wirklich offenen, ebenbürtigen Dialogs der Kirche mit allen Religionen und ihren diversen Gottesvorstellungen!
Man bedenke die sensationellen Konsequenzen: Der Papst, seine Kardinäle, Bischöfe und Priester, also der gesamte katholische Klerus hätten als »Bodenpersonal Gottes«, als Stellvertretung Gottes auf Erden, als Mittler und Vermittler zwischen Gott und dem Kirchenvolk ausgedient, weil sie ja dem falschen Gott gedient haben, weil Gott der eigenen Aussage des Papstes zufolge gar nicht katholisch ist. Die gesamte Klerisei wäre als götzendienerisch einzustufen, weil sie ein falsches Gottesbild verkündet und verbreitet hat. Das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes wäre außer Kraft gesetzt, weil er „unfehlbar“ einen falschen Gott gelehrt hat.
Papst Franziskus erweist sich mit seiner Aussage, dass „Gott nicht katholisch ist“, theologisch als Ketzer, als Umstürzler, als revolutionärer Anstifter, weil er das Fundament, auf dem die ganze Kirche und all ihre Einrichtungen basieren, zerstört. Dieses Fundament ist doch ihr Dogma, aus dem sie alles andere ableitet, das Dogma, dass Gott, ihr Gott, den sie als einzige Institution richtig sehe, sich in der Kirche und für sie offenbare und dem Papst und seinem Klerus den Auftrag gegeben habe, dies dem Volk mitzuteilen.
Franziskus bahnt mit seinem Ausspruch, Gott sei nicht katholisch, einen Weg zu einer Relativitätstheorie der Gottesbilder und der dazugehörigen Religionen. Denn von der Einsicht, dass Gott nicht katholisch ist, zu der Einsicht, dass er auch nicht protestantisch, jüdisch, islamisch, hinduistisch, taoistisch, shintoistisch und sonstwie ist, ist es ja nur ein kleiner Schritt. Die Religionen haben nur Vorstellungen, Bilder von Gott; wie Gott wirklich ist, wenn er ist, können sie alle nicht genau wissen.
Die katholische Kirche steht jetzt vor der epochalen Herausforderung, dem eigenen Papst zu kündigen, weil er eine so häretische These aufgestellt hat, oder aber diesem Papst mit all den eben genannten Konsequenzen dieser These zu folgen und sich demütig als agnostische und relative Religion zu bekennen, die aber damit der Ökumene aller Religionen einen großen Dienst erwiese, indem sie nun, von allem Hochmuts- und Unfehlbarkeitsdünkel befreit, in einen echten und ebenbürtigen Dialog mit allen Religionen und Weltanschauungen eintreten kann. Das so lange währende Zeitalter der „Gottesprotze“ (Elias Canetti) wäre definitiv beendet!
Aber auch Papst Franziskus selbst müsste Farbe bekennen. Er hat, wenn ich richtig sehe, im Grunde nur drei Möglichkeiten. Entweder gibt er zu, dass er mit seiner Aussage, Gott sei nicht katholisch, nur angeben wollte, um möglichst liberal, welt- und religionsoffen zu erscheinen; oder er räumt ein, in einem Moment geistiger Verwirrung eine solche ketzerische Behauptung gemacht zu haben; oder er erklärt feierlich urbi et orbi ex cathedra, dass er das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit abschafft, weil es nicht der Wahrheit entspricht, ihr nicht entsprechen kann, da Gott, wenn er existiert, in jedem Fall so vollkommen gedacht werden muss, dass er sich mit keiner Religion zu identifizieren vermag, weil jede Religion aus Licht und Schatten besteht, insbesondere jede der großen Weltreligionen neben positiven Eigenschaften und Leistungen auch schwerste Vergehen und Verbrechen auf ihrem Schuldkonto hat.
Wie immer man die hier debattierte Aussage des Papstes auch interpretieren wollte und sollte, eines steht fest: Trotz aller Unlogik, die man ihm vorwirft, trotz aller Situations- und Stimmungsbedingtheit seiner saloppen Sprüche, die ihm den Titel „Spontifex“ eingebracht haben, fügt sich seine These des nichtkatholischen Gottes lückenlos in sein Weltumarmungs- und Weltgewinnungsprogramm. Um die Menschen in den universalen Schafstall, dessen oberster Hirte er ist, hineinzubringen, ist ihm jedes Mittel recht, auch die Preisgabe des einen oder anderen Dogmas!
Denn auch den Piusbrüdern, dieser traditionalistisch-katholischen Sekte, deren Priester alles ablehnen, was durch das II. Vatikanische Konzil verkündet und in die Welt gesetzt wurde, will ja Papst Franziskus nunmehr die kirchenrechtliche Anerkennung nicht mehr verweigern. Die Catholica muss um jeden Preis wachsen und auch alle verlorenen Schafe wieder einfangen!
Das Gleiche gilt von geschiedenen oder sich scheiden lassen wollenden Eheleuten. Den Sakramentenempfang hat er ihnen offiziell zwar immer noch nicht erlaubt. Aber Schlitzohr Franziskus hat ihnen in schon fast nicht mehr überbietbarer Spitzfindigkeit eine Hintertür geöffnet. Sie können jetzt ganz leicht ihre kirchliche Eheschließung annullieren, durch die Kirche für ungültig erklären lassen. Da sie auf Grund dessen also gar nicht geschieden sind, weil sie in Wirklichkeit nie verheiratet waren, dürfen sie jetzt auch wieder ohne weiteres die Sakramente empfangen, sind sie gar nicht exkommuniziert.
Natürlich toben die Kurienkardinäle und Rechtsexperten der Kirche, empören sich konservative Klerikerkreise über die Art und Weise, wie der Papst diesbezüglich argumentiert, vor allem in seinem Lehrschreiben Amoris laetitia (Die Freude der Liebe). Aber er hat die Lacher auf seiner Seite, wenn er sagt, dass im Zustand des Verliebtseins die Zurechnungsfähigkeit eben abnehme und man/frau bei wichtigen Entscheidungen vorsichtig sein sollten. Auf die Ehe bezogen, bedeute das, dass ihr Zustandekommen sich oft unserer jetzt herrschenden „Kultur der Vorläufigkeit“ verdanke. Ergo müsse man daraus schließen, dass Verliebte oft gar nicht richtig wissen, was sie sagen, wenn sie sich das Eheversprechen „bis das der Tod euch scheidet“ geben. Die „Mehrzahl der christlichen Ehen“ ist nach der Meinung des Papstes also „ungültig“ bzw. „nichtig“.
Man sollte natürlich bei einem Spontifex à la Franziskus nicht besonders darauf bestehen, dass er alle Konsequenzen einkalkuliert, die aus seinen Auslassungen sich ergeben. Denn eigentlich bedeutet das eben Gesagte, dass er die Mehrheit katholischer Eheleute für unmündig hält, für unreif und nicht ganz bei Verstand und vollem Bewusstsein. Wütend schreibt deshalb auch die konservative Frankfurter Allgemeine (22.06.16): „Wird die Entmündigung in großem Stil betrieben…?“ Es gehe dem Papst tatsächlich „um die Behauptung einer kulturellen Begriffsstutzigkeit, derentwegen ein Eheversprechen nicht für bare Münze genommen werden dürfe, auch wenn es explizit formuliert wurde. Selbst wenn diese Kindsköpfe wollen, sie können es nicht, lautet der Tenor. Das ist päpstlicher Paternalismus at its best, der einem buchstäblich die Sprache verschlägt. Ob Franziskus aus seiner pauschalen Kulturkritik ein neues anthropologisches Grundgesetzt ableitet (nach dem Motto: Menschen heute sind nicht bei Trost)?“ Seine Mahnung jedenfalls scheint zu lauten: Belästigen wir doch „die Leute nicht weiter mit unseren Zumutungen, sie ticken sowieso nur im Modus der Vorläufigen, und wer sich von Ihnen auf ewig bindet, weiß nicht, was er tut.“ Alle Scheidungswilligen – und das sind nicht wenige! – werden sich über den Zuspruch des Papstes freuen. Zumindest ihre Sympathie hat er für die Kirche gewonnen. Die Apologeten des Papstes versuchen natürlich, den Wirrwarr, den er stiftet, abzuschwächen. Den Vogel schießt dabei der deutsche Kardinal Walter Kasper ab. „Der Papst ändert keine einzige Lehre, doch ändert er alles.“ Das ist theologische Dialektik, die alles bejaht und alles verneint!
Dabei kann der sich vor der Weltöffentlichkeit so liberal Gebende innerkirchlich durchaus absolutistisch-diktatorisch vorgehen und das vom II. Vaticanum beschlossene Kollegialitätsprinzip zwischen Papst und Bischöfen bei wichtigen Entscheidungen einfach missachten. Sein neues Gesetz zur Erklärung und Feststellung der Ungültigkeit kirchlich einwandfrei geschlossener Ehen beispielsweise setzte er ohne Konsultierung der Bischofssynode rücksichtslos durch. Über Konsultationen mit seinem wissenschaftlichen Stab setzt er sich selbstherrlich hinweg, wenigstens meistens. Aber draußen in der Welt, da reist er als Friedensengel und Allversöhner durch die Lande, da besucht er bzw. besuchten ihn Obama und Putin, da umarmt er Fidel Castro ebenso wie den islamischen Diktator Erdogan, nicht ohne jedesmal neben dem sicherlich auch positiven Wert dieser Begegnungen immer etwas für seine Kirche herauszuschlagen, und sei es nur der Image-Gewinn für sie in einem überwiegend nichtchristlichen Land oder die Lockerung der Seelsorge- und Missionsbeschränkungen für sie in bisher ideologisch konträren Staaten.
Papst Franziskus brachte sogar den israelischen Staatspräsidenten Schimon Peres und den Palästinenserchef Abbas an einen Tisch, wenn er es auch trotz seiner wenigstens verbalen Relativierung der Absolutheitsansprüche der Religionen nicht fertigbrachte, die beiden gemeinsam in einem Raum zum Beten zu bringen. Aber immerhin, die Weltöffentlichkeit bewunderte den Papst auch dafür.
Aber vielleicht ist Franziskus ja auch schlauer und vorausschauender als alle Päpste vor ihm. Während sein unmittelbarer Vorgänger Benedikt den Islam und seinen Gründer in seiner Regensburger Rede noch als inhuman kritisierte und die meisten Päpste eine ausgesprochen feindliche Haltung dieser Religion gegenüber einnahmen, baut der jetzige Papst schon vor, indem er den Islam nie und nirgendwo schlechtmacht, vielmehr seine Vorzüge, seine Frömmigkeit, seine rituellen Vollzüge usw. übereifrig hochpreist.
Die Kirche hatte in der Vergangenheit – das war eines ihrer Überlebensprinzipien – oft eine feine Nase für bisweilen erst in ferner Zukunft sich anbahnende Machtverschiebungen bewiesen. Warum sollte sie also nicht alles unternehmen, um unter dem evtl. auch in Westeuropa zur Herrschaft gelangenden Islam sich ein Existenzrecht zu sichern? Existenzprinzip aller Päpste: Die Catholica darf nicht untergehen, mögen die Umstände noch so widrig sein, die Gegengewalten noch so mächtig erscheinen!
Widrige Umstände – das sind auch die Jahrhunderte alten Glaubenskämpfe und dogmatischen Differenzen zwischen Katholizismus, Protestantismus und orthodoxer Kirche. Auch da hat der „Handelsreisende Gottes“ keinerlei Probleme, diese zu nivellieren, heuchlerisch so zu tun, als ob sie nicht existierten, während er in Wirklichkeit die gewaltigen Hindernisse einer echten Ökumene (Primat und Unfehlbarkeit des Papstes, Nichtanerkennung des Kircheseins der lutherischen und calvinistischen bzw. Zwinglianischen Reformationskirchen, Nichtakzeptanz von deren Frauenordination usw.) natürlich nie beseitigen wird.
Da verkünden fast alle Medien unseres Planeten den „bahnbrechenden epochalen Schritt“, dass sich am 12. Februar 2016 Papst Franziskus und der orthodoxe Patriarch von Moskau und ganz Russland Kyrill in einem Sonderraum des Flughafens Jose Marti von Havanna „nach fast 1000 Jahren der Gegnerschaft, der Auseinandersetzungen, des unchristlichen Bruches von 1054“ nunmehr wie „zwei Geschwister im gemeinsamen Glauben“ getroffen hätten, um zwar „nicht als Gegner, sondern als Brüder… zur Ehre der Allerheiligsten und Unteilbaren Dreifaltigkeit“ ihr gemeinsames Wort an alle Völker Lateinamerikas und der anderen Kontinente zu richten, und erwähnen dabei mit keinem Wort, dass keinerlei Differenzen ausgeräumt wurden, die orthodoxen Kirchen niemals die Oberherrschaft des Papstes anerkennen werden, so dass es sich hierbei wieder um ein Theater handelt, das Gottes momentan größter Scharlatan eingefädelt hat, um den Medien und der Weltöffentlichkeit die Illusion einer christlichen Ökumene vorzugaukeln, die es faktisch und praktisch nicht gibt und nicht geben kann, wenn nicht das Papsttum von seinen hybriden, dogmatisch und juristisch festgezimmerten Hoheitsansprüchen ganz offiziell Abstand nimmt, was Papst Franziskus ebenfalls nie tun wird!
Aber noch größer sind ja die Barrieren zwischen Katholizismus und Protestantismus. Doch auch da ist der Schein wichtiger als das Sein, als die längst weit auseinander gedriftete Existenzart der beiden Konfessionen. Man denke nur an das sture Festhalten der katholischen Amtskirche an der Kluft zwischen evangelischen und katholischen Geistlichen. Ersteren fehle halt das hochheilige Sakrament der Priesterweihe. Sie seien Beamte, Angestellte, aber keine Gottesgesalbten. Schließlich habe ja Luther das allgemeine Priestertum aller Gläubigen proklamiert und damit die strikte Trennung von Klerus und Volk ketzerisch geleugnet. Aber der vermeintlich alles Begradigende, alles Glättende, alle Rivalitäten Nivellierende bzw. Verharmlosende, alles diplomatisch Regelnde, in Wirklichkeit aber kein Jota seiner kalten Gesetzeskirche Aufgebende treibt die ökumenische Illusion weiter voran, lässt sich vom Lutherschen Weltbund feierlich einladen, um auch da im Mittelpunkt zu stehen und zu punkten Anlass: Der Auftakt des Gedenkjahres, mit dem das 500-Jahr-Jubiläum von Martin Luthers legendärem, weil in Wirklichkeit nicht stattgefundenen, lediglich propagandistisch aufgeblähten „Thesenanschlag“ an der Wittenberger Schlosskirche am 31. Oktober 1517 als vermeintlichem Ausgangspunkt der Reformation feierlich in Lund/ Schweden begangen werden soll.
Heucheln werden dabei beide Seiten. Die evangelische, indem sie nicht mal erwähnt oder nur als zeitgeistbedingt die schrecklichen Kanonaden Martin Luthers auf das Papsttum hinstellen wird, obwohl dieser seine Kritik als essentiellen Bestandteil seiner neuen Lehre betrachtete, den Papst allen Ernstes für „den letzten und mächtigsten Antichrist“ hielt, die Kirche als „Unrat des römischen Sodom“ und „Synagoge des Satans“, das Papsttum insgesamt als „rotes Babel“ bezeichnete, das usurpatorisch anstelle von „Gottes Tempel“ getreten sei. Ganz unökumenisch sah Luther nach reiflicher Fortentwicklung seiner Theologie keine Möglichkeit der Versöhnung oder gar Wiedervereinigung mit der Papstkirche. Im Gegenteil, er forderte die damals Herrschenden auf, „diese Pest des Erdenkreises mit Waffengewalt anzugreifen und die Sache nicht mit Worten, sondern mit Eisen zu entscheiden“. Warum, so fragt Luther, „brauchen wir nicht jeder Art Waffen wider solche Lehrer der Verderbtheit, wider diese Kardinäle, Päpste und die ganze Grundsuppe des römischen Sodoms und waschen unsere Hände in ihrem Blut?“
Aber auch die katholische Seite, die deutschen Bischöfe und der Papst als oberstes Organ der Kirche werden zu all dem, was die ökumenische Correctness beschädigen könnte, ein ganzes Lutherjahr lang eisern schweigen, in Wirklichkeit aber weiterhin an der exklusiv und allein seligmachenden mater ecclesia catholica stur festhalten.

Erscheinungsdatum: 08.12.2017