Bereits im Altertum gab es philosophische und religiöse Strömungen, die drei Gruppen von Menschen unterschieden: die Somatischen, die Psychischen und die Pneumatischen. Die ersten leben noch ganz in ihrem soma, ihrem Körper-Ich. Der Geist ist noch nicht erwacht, eine höhere steuernde Instanz scheint in ihnen (noch) nicht vorhanden zu sein. Gesteuert werden sie von den Trieben und Bedürfnissen ihres Körpers. Sie sind Getriebenen, landen aufgrund der Befriedigung dieser Triebe mal hier, mal dort, aber ein einheitliches, überlegenes Ziel, das all ihren Aktivitäten und Bewegungen einen übergreifenden Sinn gäbe, gibt es bei ihnen nicht. Wenn die Menschen, die auch heute zu dieser Gruppe zu zählen sind. sich überhaupt theoretisch definieren könnten, müssten sie in Abänderung des berühmten cartesianischen Ausspruchs („cogito, ergo sum“ = ich denke, also bin ich) von sich sagen: „consumo, ergo sum" (ich konsumiere, also bin ich; oder genauer: also vegetiere
ich). Vielleicht etwas zu trivial könnte man von diesem Menschentypus mit einem allen bekannten Operetten-Vers sagen: „Sein idealer Lebenszweck ist Borstenvieh und Schweinespeck.“
Die zweite Gruppe von Menschen hat ihren Schwerpunkt nicht mehr so sehr im Körperlichen als in der Psyche. Sie sind dementsprechend nicht mehr so grobschlächtig, dickhäutig, so wenig feinfühlend, so sehr von rohen materiellen Bedürfnissen gesteuert. Sie sind beschwingt, beseelt, sensibel, leicht ansprechbar durch Stimmungen, Musik, Kunst, durch die Harmonie einer Landschaft usw. lm Kontakt mit dem Geschlechtspartner herrscht nicht die grobe Sexualität, sondern die anmutige, prickelnde, mit einem Schleier des Geheimnisses umwobene Erotik vor. Aber auch sie haben im Eigentlichen noch keine ordnende, planende, steuernde Kraft des geistigen Selbst in sich entwickelt. Auch sie sind Umgetriebene, getrieben zwar nicht so sehr von ihren Trieben, als vielmehr von ihren schönen oder melancholischen Stimmungen; Freud würde vielleicht sagen: von den Sublimationen ihrer Triebe und Bedürfnisse. Auch sie sind eigentlich nie Herr im eigenen Hause; Stimmungen kommen und gehen, und sie schwimmen im Grunde willenlos auf dem Rücken dieser Stimmungen mit. Zu dieser zweiten Gruppe gehören viele Romantiker, Ästheten, Schöngeister. Sie sind Genießer auf einem höheren Niveau als die erste Gruppe. Sie lassen sich z.B. nicht so sehr vom „Stoff", vom „Körper“ einer Speise anmachen als vielmehr vom ganzen „Drum und Dran“. der schönen Atmosphäre in einem Restaurant oder Ähnlichem. Aber sittliche Verantwortung übernehmen auch sie nicht gern. Sie freuen sich sozusagen mit den Frohen und trauern tränenüberströmt mit den Traurigen. Aber echte Hilfe für die Letzteren werden sie kaum jemals organisieren. Das würde den Fluss des Lebens, dem sie sich willenlos hingeben und den sie genießen, in ihren Augen hemmen oder ganz blockieren.
Kommen wir zur dritten Gruppe, den Geistesmenschen. Sie haben den Geist in sich entdeckt, haben das Bewusstsein, eine geistige Wirklichkeit zu sein, und versuchen, das geistige Prinzip in ihrem Innern immer stärker zu verwirklichen. Sie verleugnen nicht ihr Körper-Ich und dessen Rechte. Sie verneinen auch nicht ihr Seelen-Ich und dessen manchmal wundervolle Stimmungen und Schwingungen. aber sie integrieren diese beiden Schichten in das, was im Eigentlichen und Tiefsten den Menschen ausmacht, in sein Geist-Selbst, sie ordnen diesem alles unter. Weil sie dieses steuernde geistige Zentrum bewusst in sich tragen, können sie weder von den wechselnden Launen des Seelen-Ich noch von den bisweilen brutal nötigenden Trieben des Körper-Ich „weggetragen“ oder
gar weggeschwemmt werden. Dieses Zentrum ist die Einheit in der Vielheit der verschiedenen „Iche", Kräfte, Elemente und Bedürfnisse in dem „Energiepotenzial Mensch“.
Körper- und Seelen-Ich spinnen und weben – buddhistisch ausgedrückt – die Maya, die sinnlich fassbare Welt als Schein, als Täuschung, als Nicht-Sein, als Schleier über der eigentlichen Wirklichkeit, die nur rein-geistig wahrgenommen werden könne. Daraus resultiert die radikale Forderung indischer Religionsphilosophie, sein Ich aufzugeben, es völlig zu überwinden, es „auszulöschen". Nirwana ist eigentlich der Zustand, wo das Leben mit seiner faszinierenden Sinnlichkeit, seinen Schwingungen. Vibrationen, Bewegungen, seinen Trieben, Bedürfnissen, Stimmungen ausgelöscht, „ausgehaucht“ ist. lm abendländischen Raum hat Arthur Schopenhauer mit der Auslöschung des (Lebens-) Willens eine ähnliche, von der indischen Mentalität beeinflusste Lehre verkündet. lm
20. Jahrhundert hat dann Max Scheler in seiner berühmten Anthropologie („Die Stellung des Menschen im Kosmos“) den Menschen als „Asketen des Lebens“, als „Nein-Sager des Lebens“ definiert.
Alle diese Richtungen sind zu radikal, zu einseitig, und damit aufs Ganze gesehen falsch. Nicht das Leben soll ausgelöscht werden und nicht das Ich, das sich an diesem Leben erfreut. Nur wo die Lebensfreude zur Lebensgier wird und anderes Leben beeinträchtigt, verletzt oder zerstört, muss das Ich zurechtgebogen und beherrscht werden, muss der Mensch sich selbst zur Askese, zu gewissen Verzichten zwingen. Genau das ist Aufgabe des steuernden Geistes in uns. Der Geist auch hier kein Widersacher des Lebens, sondern sein Förderer, sein Bestärker in der an sich positiven Richtung dieses Lebens.
Nicht Auslöschung also des Seelen-Ich und des Körper-Ich, sondern deren Unterordnung unter höchste ethische Normen, die der Geist entdeckt oder aufstellt und die im Grunde wieder nur dem positiven Potenzial des Lebens dienen. Nicht Auslöschung und Zerstörung des Ich, sondern seine Hinentwicklung, seine Transformation und Metamorphose zum geistigen Ich, besser: zum
Geist-Selbst, das den unsterblichen Kern in jeder menschlichen Persönlichkeit bildet.
An sich laufen Ontogenese und Phylogenese, also menschliche Individualentwicklung und die Evolution des Gesamtlebens auf unserer Erde unter einem bestimmten Aspekt ziemlich parallel. Man hat ja zwischen Biogenese, Psychogenese und Noogenese in dieser Evolution unterschieden, also zwischen der Entstehung des Lebens, des Psychischen und des Geistigen. Diese drei Größen entwickeln sich nicht so sehr nacheinander als auseinander. lm Lebendigen sind Psychisches und Geistiges immer schon eingeschlossen, zumindest keimhaft enthalten. Das Leben erweist sich auch in dieser Hinsicht als der weiteste Rahmen, als die umfassendste Fülle der Wirklichkeit. Es entwickelt sich und in seiner Höherentwicklung realisiert es immer stärker seine psychischen und geistigen Komponenten. Geistesleben ist dann auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung die höchste und bewussteste Ausformung und Entfaltung des Lebens und alles dessen, was in diesem Leben schon immer angelegt war.
Nicht anders soll es sich mit dem Leben eines jeden menschlichen Individuums verhalten. Aus dem frühkindlichen Körper-Ich mit seinen organischen Bedürfnissen des Hunger- und Durststillens usw. schält sich das Seelische immer deutlicher heraus und im Rahmen der menschlichen Reifung soll dann der Geist im Menschen die Führung in allen wichtigen Belangen übernehmen. Oft ist es ja auch die Pubertätszeit, in der dem Jugendlichen manchmal schockartig aufgeht, dass er durch die Triebe und Stimmungen, die da in ihm aufbrechen und ihn zu überfluten drohen, allein auf sich selbst zurückgeworfen ist und nun etwas in ihm („der Geist") entscheiden muss, wo's langgehen, wie er sich in seinem weiteren Leben verhalten soll. Wenn er sich entscheidet und sich das ganz bewusstmacht, hat er einen Aspekt seines Geistes entdeckt und aktiviert. Er hat dann eine Fassade durchbrochen. die das Körper-Ich und das Seelen-Ich vor dem geistigen Lebenszentrum im Menschen aufbauen. Diesen Durchbruch durch die Fassade schaffen viele Menschen aus vielerlei Gründen nicht. weshalb z.B. der unerhört lebenserfahrene William James, neben Wilhelm Wundt der Begründer der Psychologie als Wissenschaft, von den „einmal“ und „zweimal Geborenen“ unter den Menschen gesprochen hat. Die zweimal Geborenen erfuhren irgendwann im Leben ein Durchbruchserlebnis durch die „Fassade“ zum Geist hin.
Aber auch ohne „umwerfendes Erlebnis“ ist die geistige Ebene in uns erklimmbar. In jeder echten Entscheidung, die einer trifft, realisiert er sie. Wir müssen uns nur bei jeder wichtigeren Handlung in unserem Leben von Konventionen, von gedankenlosen Gewohnheiten, von blinden Vorurteilen freimachen. Denn wenn wir dies nicht tun, sind wir zwar auch gesteuert, aber nicht von unserem Geist, sondern von der Massenpsyche, der Mode, dem gesellschaftlichen Reglement einer Gruppe, eines Vereins, von obskuren Führern und Idolen o.ä. Wenn ich aber konzentriert darauf schaue, was in einer bestimmten Situation für mich als Geist-Seele-Leib-Einheit wichtig und voranbringend ist bzw. was im Kontext von Mitmensch und Natur im Augenblick ethisch von mir gefordert ist, und mich dann zu einer dementsprechenden Handlung entscheide, dann aktiviere ich den Geist in mir, genauer gesagt: dann hat mein Geist bereits die Herrschaft in mir angetreten, dann hat er sich bereits als die steuernde Macht in mir betätigt und erwiesen. Dann gehöre ich auch zu den „zweimal Geborenen“ im Sinne von W. James.
Im Grunde ist dessen Typologie ja auch schon uralt. Ihr liegt die Idee zugrunde, von der alle weisen Menschen aller Zeitalter wussten, die Idee, dass es nicht genügt, geboren zu werden, um Mensch zu sein: dass man vielmehr in seinem Erdenleben zweimal geboren, also „wiedergeboren“ werden muss, um das Menschsein in seiner ethischen und geistigen Größe zu erreichen. Schon die Angehörigen der Naturreligionen wussten oder ahnten das. Ihre oft schwierigen und gefährlichen Einweihungs- oder Initiationsriten, zu denen meist die Feuertaufe gehört, sind jene wichtige Lebensstation, durch die die jungen Leute des Stammes durch müssen, wenn sie von den Stammesältesten als „Neugeborene“ begrüßt werden wollen und ihr Leben als „ein völlig neues“ gelten soll. Die Idee der Wiedergeburt spielt auch in den antiken Mysterienreligionen eine große Rolle. Wer vom Geist der Gottheit angenommen. „adoptiert“ worden ist, gilt als Wiedergeborener. Die in die persisch-römische Mithrasreligion (die dem Christentum in den ersten Jahrhunderten so
viel Konkurrenz machte) Eingeweihten (die „Mysten") hießen „renati in aeternum“ (für die Ewigkeit Wiedergeborene).
Abgesehen von dieser religiösen Umkleidung der zugrunde liegenden Idee haben aber auch praktisch alle Moralphilosophen der Menschheit gelehrt, dass man in den Status eines ethischen, also geistig-sittlichen Wesens nicht schon durch die Geburt aus dem Mutterleib, sondern erst durch eine Wiedergeburt gelangt. Den einmal Geborenen bezeichneten die Stoiker des Altertums als „Toren“, den durch eine Umkehr, eine innere Wandlung, eine geistige Wiedergeburt Neugeborenen als „Weisen“. Mit dieser Weisheit ist bei den stoischen Philosophen die vernünftige, geistige Ordnung und Steuerung aller Lebensimpulse gemeint. Auch der größte deutsche Philosoph, Immanuel Kant, betonte die Notwendigkeit der Wiedergeburt in seiner Schrift „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“. Er sagt da: „Dass aber jemand nicht bloß ein gesetzlich, sondern ein moralisch guter Mensch werde, welcher, wenn er etwas als Pflicht erkennt, keiner anderen Triebfeder weiter bedarf als dieser Vorstellung der Pflicht selbst, das kann nicht durch allmähliche Reform, solange die Grundlage der Maximen unlauter bleibt, sondern muss durch eine Revolution in der Gesinnung im Menschen (einen Übergang zur Maxime der Heiligkeit derselben) bewirkt werden; und er kann ein neuer Mensch nur durch eine Art von Wiedergeburt gleich als durch eine neue Schöpfung… und Änderung des Herzens werden.“ Diese Revolution im Sinne einer Schwerpunktverlagerung vom Trieb- und Stimmungshaften ins Geistige kann sehr weh tun. Sie ist dem schmerzhaften biologischen Geburtsvorgang durchaus vergleichbar. Um diesen Aspekt haben, wie angedeutet, die sog. Primitiven mit ihren geradezu qualvollen Initiationszeremonien klarer gewusst als der sog. zivilisierte Mensch. Man muss einer Sache, d. h. der bisherigen Lebensweise in gewissem Sinn absterben, um eine höhere Lebensstufe zu erklimmen, ein neues Leben leben zu können. Deshalb hat sogar das „Weltkind“ Goethe, der keinem Genuss abhold war, erkannt:

„Und solang du das nicht hast,
Dieses stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.“

Wir haben einige Zeugen aus der Geschichte des menschlichen Geisteslebens angeführt, die aber in ihrer Anschaulichkeit nur die Grunderkenntnis in unserem eigensten Innern wecken sollten, dass die Natur in ihrer stammesgeschichtlichen Evolution und unser eigenes Individualleben dem Werde-Gesetz der Schwerpunktverlagerung vom Biologischen zum Psychischen und vom Psychischen zum Geistigen folgen, wobei aber dieses Geistige das Bio-Psychische nicht abstößt, sondern als steuernde, lebensgemäße Kraft integriert und harmonisiert. Auch die Evolution der Natur auf ihrem langen, über Millionen Jahre sich erstreckenden Weg wurde ja als „die Geschichte des zunehmenden Triumphes des Geistes über die Materie“ (E. v. Baer) bezeichnet.
Die Sondernatur des Menschen, im Vergleich zu allen anderen uns bekannten Lebewesen in dem sie und uns umfassenden Reich der Natur, ist besonders auffällig an der aufrechten Haltung, der Höherentwicklung des Gehirns, insbesondere des Großhirns, und an der Ausbildung der Sprache, der Schrift und der mit ihnen eng verbundenen. geistigen Fähigkeiten abzulesen. Den unerhört wichtigen, für seine Sondernatur vielleicht bedeutendsten und ausschlaggebendsten Evolutionsschritt der endgültigen Aufrichtung seiner Haltung hat der Mensch vor etwa 500 000
Jahren vollzogen. Davor aber liegen zahlreiche Etappen, in denen die Natur in vielerlei Anstrengungen und in einem etwa 12 Millionen Jahre währenden Prozess die Aufrichtung des Ganges, der Haltung in den tierischen Vorfahren des Menschen erprobte und anstrebte. Das Unerhörte dieses Schrittes in der Emporentwicklung der Natur zeigt sich vielleicht auch daran, dass selbst dem Jetztmenschen die Anpassung an diesen Schritt offenbar noch nicht voll gelungen ist, sonst würde er nicht ständig an Krankheiten und Beschwerden laborieren, die eine Folge der aufrechten Haltung darstellen. Man denke diesbezüglich beispielsweise an Bandscheibenschrumpfung und -prolaps, Eingeweidesenkungen, Belastungsbeschwerden der Füße (Senk- und Spreizfuß), venöse Stauungen in den Bein- und Beckenvenen, orthostatische Regulationsstörungen bis zum Kollaps, arthrotische Vorgänge an Wirbelsäulen-. Hüft- und Beingelenken usw. Offenbar war es der Gesamtnatur wichtig, trotz des hohen Preises an Beschwerden und Krankheiten, den sie dafür erbringen musste, den evolutionären Schritt zur Aufrichtung des Lebens im Menschen zu wagen und durchzusetzen.
An der aufrechten Haltung, die allein der Mensch hat und die doch einige Tierarten fast haben, auf die auch viele menschenähnliche oder fast-menschliche Tierarten sozusagen hingearbeitet haben, zeigt sich ganz besonders deutlich, dass sich dieses menschliche Sondermerkmal der Natur als hervorbringender Kraft verdankt, dass es dem Menschen eine herausragende Stellung in der Natur und nicht jenseits oder außerhalb von ihr zuweist. Der Mensch ist jenes Wesen der Natur, in welchem sich das Leben selbst aufrichtete, in welchem es aufstand und sich von der Erdenschwere, von der starken Verhaftetheit an die Erde relativ freimachte. Phylogenetisch wissen wir, dass das Leben sehr früh in den Primaten den Mechanismus ausgebildet hat, den Rumpf in aufrechter Position zu halten. Die Fähigkeit, die Arme weit vorzustrecken, und die vollständige Streckung der hinteren Extremitäten (Beine) folgten bei ihnen später. Eine ganze Menge mutativ bedingter und ermöglichter Umkonstruktionen und ihre Synorganisation waren nötig, um die aufrechte Haltung einzuführen und zu stabilisieren: Die Umgestaltung und Vorwärtsneigung des Beckens, die Ausgestaltung der Kurvaturen der Wirbelsäule, die Ausbildung des Fußgewölbes, die Umgestaltung der Beckengürtelmuskulatur, die Verschiebung der Kopf-Wirbelsäule-Verbindung usw.
Vielleicht ist ein weiteres Indiz für das unerhörte Novum des aufrechten Ganges im Reich der Natur und das keineswegs Selbstverständliche daran, dass auch ontogenetisch, d. h. von jedem ins Leben tretenden menschlichen Individuum die aufrechte Haltung jeweils neu errungen werden muss. Vor allem Adolf Portmann hat wiederholt darauf hingewiesen, dass »kein einziges unter den Säugetieren seine artgemäße Haltung so wie der Mensch erst längere Zeit nach der Geburt und durch aktives Streben« , Lernen und Nachahmen erreicht. Die Anatomie, der Körperbau mit seinen Wachstumsverschiebungen ermöglicht diese Prozedur aktiven Strebens und Lernens des aufrechten Ganges. Weist doch beim Neugeborenen die Wirbelsäule noch nicht die für die aufrechte Haltung typischen und notwendigen Kurvaturen auf; sie ist da noch fast gerade und bekommt die spezifische Krümmung einer federnden Stützstruktur des senkrecht stehenden Körpers erst spät, ebenso wie das Becken seine typische Stellung erst spät erhält. Psychisches und Körperliches arbeiten hier Hand in Hand, um die dem Menschen und seiner Sonderstellung in der Natur gemäße Haltung herauszubilden.
Man vergegenwärtige sich den gewaltigen Bogen, den die Natur von ihren ersten Lebenskeimen vor etwa 3,5 Milliarden Jahren bis zur aufrechten Haltung im höchsten ihrer terrestrischen Geschöpfe in der Stammesgeschichte gezeichnet hat. An der Spitze der Evolution des Lebens auf unserem Planeten steht jedenfalls vor uns eine einzigartige Gestalt, die voll aufgerichtete Körperhaltung, die den Menschen allein auszeichnet. »Das vierfüßige Tier mag schnell und leichtfüßig sein und die Erdschwere oft besser überwinden als der Mensch; dennoch liegt die Richtung seines Leibes der Erde an, und sein Gesicht erhebt sich nicht über den Horizont des Umkreises, in dem Nahrungsfund, Beute und Feind zu erwarten sind. Sicher kann der Hund den Mond anbellen, aber deshalb wird sein Horizont nicht umfassender. Sicher trägt auch die Giraffe den Hals ausnehmend hoch, aber nur um nach Laub zu suchen, von einer frei stehenden und gehenden Vertikalität, von einer grundsätzlichen ›Weitschweifigkeit< des Blickes, zu dem ein seiner ganzen Natur nach hochgestellter Leib mit seinem hochgetragenen Haupt beinahe zwingt, kann nicht die Rede sein. Auch ist es unpassend, die aufrechte Haltung der Vögel mit der des Menschen zu vergleichen. Sie ist bestenfalls eine fast auf-
rechte, im Grunde nur eine Zweibeinigkeit, die durch die anderweitige Verwendung der Vordergliedmaßen bedingt ist und die den Körper so in Balance hält, dass er stehen, laufen und vor allem abfliegen kann. Die Bipedie des Vogels ist eine sekundäre, von der primären Funktion des Fliegens abhängig - auch wenn es ›entartete< Vögel gibt, die nur mehr laufen können; aber gerade dann ist von aufrechter Haltung - siehe Strauß - kaum mehr etwas zu bemerken. Die Bipedie des Menschen ist primär, die ganze Gestalt ist daran orientiert, er ist das einzige aufrechte Wesen par excellence - alle anderen sind höchstens teils aufrecht oder fast aufrecht oder vorübergehend aufrecht, wie die Menschenaffen. Aber sie sind auch in der ›Menschennähe<« .
Mit dem aufrechten Stehen und Gehen auf zwei Beinen erschließt sich dem Menschen die Natur, die Welt in einer ganz neuen Weise, tritt er ihr auch in ganz neuer Weise sehend und handelnd gegenüber. Die Arme und Hände sind jetzt frei, sie werden im Wesentlichen nicht mehr zur Fortbewegung gebraucht. Freiheit der Arme und Hände bedeutet ein ganzes Arsenal an Möglichkeiten einer neuen Verwendung dieser Organe zu zahlreichen hochdifferenzierten Bewegungen, zum Gebrauch von Werkzeugen verschiedenster Art. Ein reichgestaltetes Instrumentarium technischer Mittel gelangte auf diese Weise buchstäblich in die Hand des Menschen. Man hat mit Recht gesagt: »Aufrichtung bedeutet Freiwerdung der Hände zum >Handeln<, da sie bislang zur Fortbewegung engagiert waren. Freiwerdung der Hände bedeutet Freiheit für neue Arten der Daseinsbewältigung: greifend, werkend, handelnd kann die Welt gestaltet werden. Die zunächst wörtlich und rein sinnlich-wahrnehmbar gemeinte »Handlungsfreiheit« der Arme und Hände setzt sich dann aber auch in den geistigen Raum hinein fort. Das Greifen der Hände, das Begreifen der Gegenstände der Außenwelt ermöglicht bzw. erleichtert der menschlichen Intelligenz das Begreifen ihrer Wesensart, die Bildung von Begriffen über diese Objekte. Untersuchen, Formen, Gestalten wird zu einer sowohl sinnlich-praktischen wie geistigen Tätigkeit. Die Hände sind Greif- und Begreif-Organ. Gerade im Vergleich mit den Händen der Menschenaffen und Affen überhaupt zeigt sich die Souveränität, die überlegene Freiheit der Hand des Menschen. Die Hände der Affen sind allein einer besonderen Art angepasst, spezialisiert, angepasst nämlich an die hangelnde und kletternde Lebensweise. Im Vergleich damit ist die menschliche Hand unspezialisierter, »primitiver«, z. B. nicht für das Hangeln verlängert wie beim Orang-Utan. Der Daumen ist opponierbar, so dass die Finger einschließlich des Daumens ein vielseitiges Greif-Organ bilden. Die Hand ist auf diese Weise sozusagen greif-frei. Die »Primitivität« und gewisse Unspezialisiertheit der Menschenhand bewahrt sie vor Einseitigkeit, ermöglicht ihr einen viel größeren Spielraum von Handlungsmöglichkeiten als den Affen, Handlungsmöglichkeiten auch zur Hege und Pflege und zum Schutz der Tiere und Pflanzen.
Mit der aufrechten Haltung, dem erhobenen Haupt ist aber auch eine Erweiterung des Gesichtsfeldes, des menschlichen Sehraums gegeben. Und auch dieser sinnliche Raum, der Raum der
visuellen Wahrnehmung setzt sich in die geistige Dimension fort: Eine tiefere Erfassung und Durchdringung der Umwelt, wie sie dem Vierbeiner, auch noch dem kletternden Menschenaffen in dieser Weite und Tiefe nicht möglich ist, wird zur Weltoffenheit schlechthin. Hingewiesen sei auch noch auf das enge Verhältnis von Greifhand und zentraler Repräsentanz des Raumes als wesentliche Voraussetzung der Menschwerdung, wie das vor allem Konrad Lorenz dargelegt und begründet hat.
Die Ausbildung der Hand, ihre Handlungsfreiheit und -vielfalt, die Erweiterung und Vertiefung des Sehraums stehen natürlich obendrein in einander gegenseitig bedingenden Abhängigkeits-Verhältnissen mit der Höherbildung des Gehirns. Die menschliche Hand wäre lahm und hilflos, klobig und ungeschickt, wenn sie keine Impulse von einem hochentwickelten, größeren und spezialisierteren Gehirn erhielte als dem der Menschenaffen. Ein hochdifferenziertes Nerven- und Hirnsystem ermöglicht auch die Fülle von Tastorganen auf der Handinnenfläche und an den Fingern.
Stammesgeschichtlich haben sich gerade durch die »enge gegenseitige Rückkoppelung von Motorik und Sensorik« diejenigen Gehirnteile und -funktionen ausgebildet, »durch die sich der Mensch über die höchsten lebenden Säugetiere emporhebt«.
Das menschliche Gehirn ist das höchstentwickelte Organ der gesamten Biosphäre der Erde. Wenn Teilhard de Chardin vom Menschen ausgesagt hat, er zeichne sich durch eine »extreme physisch-chemische Komplexität« aus, so dass die Materie in ihm ihren »höchsten Grad der Synthese« erlange, ferner durch ein »Höchstmaß innerer Organisation«, durch die er »das vollkommenste und am meisten zentrierte Korpuskel« des Kosmos sei, schließlich durch ein »Höchstmaß an psychischer Entwicklung«, so dass er die »Spitze des Lebens« bilde , dann gilt dies alles in besonderer Weise vom menschlichen Gehirn , diesem höchsten Komplexitätstriumph der Evolution der Biosphäre.
Wie bei der Entwicklung der aufrechten Haltung, so hat auch bei der Höherentwicklung des Gehirns die Natur lange und zähe Arbeit geleistet. Die Höherentwicklung des Gehirns, seine spezifischen funktionellen Neuerwerbungen ereigneten sich in einem Prozess von Jahrmillionen, der sich bis zum Ende der letzten Eiszeit hinzog. Seitdem, etwa seit dem Auftauchen des Cro-Magnon-Menschen, hat sich das Gehirn nach Volumen und Form (Furchung) nicht mehr messbar verändert. Hier scheint eine morphologische Entwicklungsstufe des Gehirns, dieses führenden, dominanten Teilorgans des Zentralnervensystems erreicht zu sein, die bisher jedenfalls den geistigen und kulturellen Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen keine Grenzen gesetzt hat. Die funktionellen Möglichkeiten des menschlichen Gehirns aufgrund seines jetzigen morphologischen Entwicklungsniveaus scheinen noch nicht ausgeschöpft.
An sich sind die Unterschiede zwischen Menschenaffen und Mensch in bezug auf das morphologische Substrat des Gehirns tatsächlich und eigentlich von nur quantitativer, nicht qualitativer Art. Erhebliche Differenzen sind aber bezüglich Zelldichte und der Ausbildung der Neuronenverbindungen festzustellen, so dass der sog. Grau-Zellen-Koeffizient beim Homo sapiens um etwa 50 Prozent höher liegt als beim Schimpansen. »Durch Zunahme der Faserverbindungen und damit der synaptischen Verbindungen der Neurone könnte ohne grob anatomische Veränderungen doch eine funktionelle Höherstufung erzielt werden. Hierin allein könnte der sogenannte ›Fortschritt der Menschheit« innerhalb ihrer Kulturentwicklung in geschichtlicher Zeit (der letzten 5000 bis 10000 Jahre) eine materielle Grundlage finden. Denn es gibt sonst keinen morphologischen Befund, dass in dieser letzten Zeitspanne ein entscheidender Schritt der biologischen Evolution des Gehirns durchlaufen worden wäre.«
Jedenfalls führt der quantitative Unterschied zwischen Anthropoiden- und Menschengehirn in morphologischer Hinsicht zu ganz erheblichen Differenzen in der funktionell-physiologischen Leistung der beiden Gehirnsysteme.
Wir haben also folgenden zunächst gegensätzlich erscheinenden Tatbestand vor uns: Einerseits gibt es »die gewaltige Kluft, die den Menschen von den höchsten Primaten, den Pongiden, trennt« (K. Lorenz ). Andererseits gibt es »im Gehirn. . . kein Teilorgan, das nur dem Menschen eigentümlich wäre« (D. Starck ). Der (scheinbare) Widerspruch löst sich dadurch auf, dass, wie schon gesagt, die Zelldichte und die Ausbildung der Neuronenverbindungen beim Menschen wesentlich weiter fortgeschritten sind als bei den Pongiden, daß aber darüber hinaus als »spezifisch menschlich… die absolut große Stirnhirnentwicklung« (C. v. Krogh ) zu gelten hat. Selbst gegenüber Pithecanthropus und Neandertaler liegt beim Homo sapiens ein beachtlicher Ausbau des Stirnhirns vor, besonders eine Entfaltung der orbitalen (über den Augenhöhlen gelegenen) Partien. Aber schon das Gehirn der Pithecanthropus-Stufe und des Neandertalers zeigt im Vergleich zum Affenhirn eine überaus deutliche Verbreiterung der Scheitel-Schläfen-Region. Zusammenfassend wäre demnach zu sagen: »Die Großhirnrinde des Menschen leistet also funktionell bedeutend mehr als diejenige von Affen, nicht nur, weil sie große Bezirke enthält, die der Rinde des Affen völlig fehlen, sondern auch deshalb, weil diese Felder erheblich reicher funktionell aufgegliedert sind als irgendweIche am Affenhirn abgrenzbaren Felder.«. Hier, mit dieser hohen Cerebralisation des Menschen ist erst die materielle, genauer physiologische Grundlage für sein begriffliches Denken gegeben, durch das er sich endgültig vom Tier absetzt und Sprache und Tradition als eine neue. spezifisch menschliche Art der »Vererbung« schafft, die die Kultur ermöglicht.
Geist haben heißt, die Natur in ihren wunderbaren Lebensgesetzen zu verehren; das Göttliche als greifbar kosmisches Phänomen sichtbar zu machen; das Universum der Natur als körperlich-seelische, als sinnlich anschauliche Verkörperung des Geistes zu erfahren; die Natur als Sinnlichkeit des Geistes zu erleben; Pflanzen, Tiere, Menschen als Aspekte und Symbole des Göttlichen aufzufassen: die Pflanzen etwa in ihrer Dauer, Ruhe, Gelassenheit, die Tiere in ihrer stummen, oft so beredten Seelentiefe, den Menschen als (zumindest) die Möglichkeit der expliziten Ausdruckskraft alles dessen, was Natur ist, und wozu sie insgeheim drängt.
Die ganze Natur, das gesamte Universum hat auf den Menschen hingearbeitet, damit er (mit möglicherweise vielen anderen intelligenten Lebewesen in anderen Planetensystemen) das (relativ) angemessenste Bewusstseins-, Erkenntnis- und Ausdrucksorgan der Natur werde. Wie hat die Evolution allein an der menschlichen Physiognomie gearbeitet, an der hohen Stirn, der Schale des Vorderhirns, der Rücknahme des Untergesichts, damit dieses nicht mehr nur ein beißendes, fressendes, fassendes, höchstens gewisse Laute von sich gebendes, sondern ein der Wortsprache fähiges wurde? »Ist der Mensch - schon wenn wir ihn in groben Zügen betrachten - nicht ein Wesen, das so ist, als ob es nach einer ewigen Idee so sein müsste? Gewiss, die Idee wäre, leider sehr oft, sehr unvollkommen realisiert, ja oft ignoriert - dennoch scheint sie >fleischgeworden< zu sein: Es ist die ldee eines Wesens, das sich selbst in der irdisch vollkommensten Weise erlebt: Es schreitet über die Erde, es überblickt ihre Landschaft, ihre Horizonte, das Firmament. Es sieht die Welt, die lebendigen Wesen, seinesgleichen als Gegenüber, dessen Größe, Buntheit, Rätselhaftigkeit es staunend, neugierig, entzückt, aber auch fragend, fürchtend und erschreckt erlebt: Es >erblickt< das Seiende. Es hört die Stimmen der Natur, nicht nur als Warnung oder Lockung, es horcht auch auf Schönheit und Erhabenheit in ihnen. Es hat selbst eine Stimme, die vox humana, die sprechen und singen lernt. Es benennt die Dinge und Wesen und sich selbst mit einem Namen - es erkennt sie an diesen Namen wieder, auch wenn es sie nicht sieht. Es schafft sich eine innere Welt der Vorstellungen und Gedanken, in der sie die äußere Welt nachbildet, bedenkt, aber auch erweitert durch eigene Schöpfungen. Es wirft die innere Welt, in der es die äußere Welt aufnimmt und verwandelt und die es aus seinem eigenen Empfinden und Fühlen ergänzt, nach außen, so dass sie anderen sichtbar und hörbar wird, die die Mitteilung verstehen. Es nimmt den Reichtum des Seienden auf und fügt ihm den eigenen hinzu. Dazu hat es auch Hände, lebendige Instrumente des Greifens, Umgreifens, Betastens, des Werkens und Bildens. . . Die schaffenden Hände sind das Zeichen seiner Souveränität über das andere Seiende. Aber die Hände, der Blick. die Sprache, die Gesten und Gebärden des Gesichts und des ganzen Leibes sind auch Mittel der Begegnung mit dem anderen, gleichartigen Wesen, mit dem Du. Es kann sich im Anderen anschauen, anrühren, umfassen, es kann sich mit ihm in gesprochenen und ungesprochenen Worten, in allen Weisen des Ausdrucks, im sachlichen, frohen und ernsten und im liebenden Dialog verstehen.
Gewiss, das Tier besitzt auch Möglichkeiten des Erlebens, des Einander-Begegnens. Tiere, vor allem höhere Tierarten dürfen nicht einfach auf den dürftigen Umkreis von Nahrung, Fortpflanzung und Schutz eingeschränkt werden. Aber im Rahmen der Evolution der Natur auf unserer Erde ist der Mensch doch das Wesen des höchsten Begreifens seiner selbst, der Welt und ihres Urgrundes. Weit mehr als das Tier ist er prinzipiell fähig, den eigenen subjektiven lnteressenkreis zu sprengen und Objektivität zu üben: das Seiende um ihn herum in seinem Eigensein ernst zu nehmen und schließlich in den Grund alles Seins herabzusteigen. Er ist das Wesen einer zweifachen Selbstüberschreitung: der zum anderen Sein hin und der zum unendlichen Sein. Nur der Mensch weiß um die Unerschöpflichkeit des Seinsanspruchs des Lebens, weiß, dass das Leben der Natur sich in ihm das Wesen mit dem größten irdisch möglichen Seinsgewinn und Seinsgenuss geschaffen, bereitet hat. Nur der Mensch kann sich das Drängen der Natur erklären, dieses Streben, das alle Grade der Bewusstheit durchlaufen kann, angefangen von einem dunklen, gefühlsmäßigen Drängen, das nicht weiß, wohin es strebt, das nur den alten, unbefriedigenden Zustand verlassen möchte, bis hin zur echten Zielstrebigkeit, die den elementarsten Drang des »weg von etwas« in ein klar vorstellungsgeleitetes »hin zu etwas Bestimmtem« verwandelt. lm Bewusstsein des Menschen leuchtet der Sinn des Dranges des Lebens der Natur zu neuen Formen und Bauplantypen hell auf. Er erkennt, dass dieser Drang nicht völlig chaotisch war und ist, nicht absolut richtungslos, sondern dass dieses Drängen der Natur seine bevorzugten Richtungen hat, nämlich die zu komplexeren, neuen Lebensformen mit größerer Umweltautonomie, Bewegungsfreiheit, Erlebnisentfaltung mit höherem Bewusstsein. »So wirft der Mensch, der sich nicht als zielloses Ergebnis der Evolution betrachten kann, von seiner Existenz her ein Licht auf sie: Sie konnte nicht ein absolutes, blindes Tappen nach allen chaotischen Möglichkeiten sein, sie war eher ein Suchen, ein Suchen gewiss auch mit Tasten und Irren, aber doch ein Suchen, das ein Ziel trieb: das Ziel der Aufrichtung, der Freiwerdung von Hand und Blick, der Souveränität über die Dinge, der Erlebnisvollendung, der Begegnung.“
Fassen wir kurz zusammen: lm Menschen hat sich die Natur im Verlauf eines Milliarden Jahre währenden Evolutionsprozesses ein Organ des höchsten Begreifens ihrer selbst, ihrer Entwicklung und ihres Urprinzips geschaffen; ein Organ der tiefsten Begegnung mit sich selbst und ihrem Urgrund; ein Organ des nuanciertesten, sensibelsten Erlebens der Welt, der Gesamtwirklichkeit in ihren Höhen und Tiefen; ein Wesen der höchstmöglichen Selbstbestimmung und Autonomie im Rahmen der Natur; mit einem Wort: Im Menschen hat die Natur die terrestrisch höchste Spitze ihres Dranges erreicht, sich selbst zu gewinnen, sich selbst zu besitzen, ihrer selbst bewusst zu werden, sich selbst im richtigen Maße zu genießen. Der Mensch ist gleichsam die bewusste Schaltstelle zwischen Seiendem und Sein. ln seiner bewussten Selbsttranszendenz zum absoluten Sein hin nimmt er alles Seiende der Natur, alle Naturdinge, in diese Bewegung mit hinein. In ihm schließt sich der Kreis zwischen der natura naturata und der natura naturans. Dieser Kreis ist zwar seinsmäßig immer schon vorhanden, immer schon geschlossen. Aber erst das reflexe Erkennen des Menschen vollendet diesen Sachverhalt »ontologisch«, »bewusstseinsmäßig«. Nur im Menschen weiß die Natur, soweit sie nicht das absolute Prinzip selbst ist, dass sie Anteil an diesem hat, dass sie an ihm partizipiert. So erweitert sich im Menschen die Natur (bewusstseinsmäßig) zu ihrer eigentlichen Größe, zu ihrem ganzen Sein. Der Mensch verdankt der Natur, die Natur verdankt dem Menschen die Fülle und Vollendung ihrer und seiner Sinngestalt. Der Geist des Menschen ist eine „einzigartige Erscheinung in der gesamten uns bekannten Natur“.
Ein Beweis des Geistes, seiner Existenz und Intelligenz ist auch seine Analogie zur Welt der Computer. Bill Gates, Gründer von Microsoft, bekennt: „Die menschliche DNS ist einem Computerprogramm vergleichbar, nur ist sie viel komplexer als alle Software, die bisher geschrieben wurde.“ Und in der Tat, sagt auch der Computerspezialist W. Overhoff, hat „kein Wissenschaftler und kein Evolutionsbiologe je wissenschaftlich erklärt, woher das äußerst komplexe Computerprogramm, bestehend aus mehr als drei Milliarden Bits/Bytes auf einem einzigen DNS-Molekül, herkommt, oder wer es geschrieben hat. Der Zufall schreibt keine Computerprogramme, auch nicht in Milliarden Jahren, dies kann nur eine Intelligenz.“
Aber sogar der geniale Leibniz hatte schon weit vorher in seiner Monadologie jedes Lebewesen als von einer Geistintelligenz programmierten Computer gesehen: „So ist jeder organische Körper eine Art von göttlicher Maschine oder natürlicher Automat, der alle künstlichen Automaten unendlich übertrifft.“
Aber selbst ein Atheist wie Richard Dawkins zollt dem Auge des Menschen, das Geistigkeit oder Ungeistigkeit desselben am adäquatesten widerspiegelt, und seinen genialen Musikschöpfungen höchste Anerkennung und Bewunderung, indem er betont: „Schuberts musikalisches Gehirn ist ein Wunder der Unwahrscheinlichkeit, viel unwahrscheinlicher sogar als das Wirbeltierauge“. Und obwohl er sonst den vermeintlich graduellen Unterschied zwischen Affe und Mensch wie auch alle seine Nachbeter in Deutschland nicht müde wird zu betonen, gibt er zu, dass der aus dem Geist des Menschen entspringende Satz des Descartes: cogito ergo sum (ich denke, also bin ich) niemals von einem Affen erfunden werden konnte noch könnte: „Was wäre, wenn wir auf irgendeine Weise einen Trupp von 1040 Affen, jeden mit seiner eigenen Schreibmaschine anheuern könnten? Siehe da, einer von ihnen würde gewichtig schreiben: ‚methinks it is like a weasel‘, und ein anderer würde fast mit Sicherheit tippen: ‚Ich denke, also bin ich‘. Das Problem ist natürlich, dass wir nicht so viele Affen zusammentrommeln können. Wenn alle Materie im ganzen Universum zu Affenfleisch würde, wir hätten immer noch zu wenig Affen. Das Wunder eines Affen, der ‚methinks it is like a weasel‘ tippt, ist für uns quantitativ zu groß, messbar zu groß, als dass wir es in unsere Theorien über das tatsächliche Geschehen hineinlassen könnten.
Hubertus Mynarek


Vertiefende und erweiternde Literatur
H. Mynarek, Orientierung im Dasein, München 1979, Unitarier Verlag.
Mystik und Vernunft, 2. Auflage, Münster 2001, LIT Verlag.
Das Gericht der Philosophen, Ernst Bloch – Erich Fromm – Karl Jaspers über Gott – Religion – Christentum – Kirche, Essen 1997, Verlag Die Blaue Eule.
Die Kunst zu sein. Philosophie, Ethik und Ästhetik sinnerfüllten Lebens, 3. Auflage, Neu-Isenburg 2015, A. Lenz Verlag.
Die Vernunft des Universums. Lebensgesetze von Kosmos und Psyche. München 1988, Goldmann-TB.
Die neuen Atheisten. Ihre Thesen auf dem Prüfstand, Essen 2010, Verlag Die Blaue Eule.
Luther ohne Mythos. Das Böse im Reformator. Freiburg, 3. Auflage 2013, Ahriman Verlag.
Unsterblichkeit. Essen 2005, Verlag Die Blaue Eule.
Wertrangordnung und Humanität, Essen 2014, Verlag Die Blaue Eule.

M. Mynarek, Geistiger Neubeginn oder Werteverfall, Norderstedt 2003, BoD Verlag.
Das Tier – Dein unterschätzter Freund, Norderstedt 2006, BoD Verlag.
Spiritualität – Religion – Kirche bei Friedrich Schiller, Essen 2012, Verlag Die Blaue Eule.
Erscheinungsdatum: 08.12.2017