Der CDU-Politiker Heiner Geißler (1930 – 2017) hat noch kurz vor seinem Tod dem Magazin DER SPIEGEL ein Interview gegeben, in dem er „dem Gott der evangelischen oder katholischen Theologie“ und dem Gott, „von dem in der Bibel die Rede ist“, den Laufpass gibt. „Ein Gott, der geliebt werden will“, so erklärt er weiter, „und dann in Kauf nimmt, dass es Auschwitz gibt? In diesem Moment, in dem wir reden, verhungern Zehntausende Leute, werden vergewaltigt, gefoltert, geschlagen. Und das nicht nur in dieser Sekunde … Seit Zehntausenden Jahren hat sich Gott nicht gezeigt und lässt uns allein. Das alles kann nicht stimmen“ (DER SPIEGEL 38/ 2017, S. 45).
Die Aussage Geißlers kommt einigermaßen überraschend. Denn dieser Politiker, der von 1982 bis 1985 Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit im Kabinett Kohl und von 1977 bis 1989 Generalsekretär der CDU war, profilierte sich immer wieder in seinen Büchern, Aufsätzen und zahlreichen Talkshows als Apologet des Christentums. Zwar hatte er an seiner katholischen Kirche, aus der er bis zu seinem Tod nicht austrat, so manches auszusetzen. Aber an Jesus, den er für den Stifter des Christentums hielt, sah er nicht den geringsten Makel.

Hat er diesem Jesus auch den Laufpass gegeben? Denn er hielt ja bis zu seinem Kreuzestod an seinem hebräischen Gott, dem Gott des Alten Testaments, fest, auch wenn er ihn vielleicht noch mit ein paar Attributen zärtlicher Güte ausstattete und ihn ganz intim Väterchen (Abba) nannte. Nirgendwo im ganzen Neuen Testament ist eine Stelle zu finden, an der diesem Jesus die Theodizeeproblematik, die Frage der Vereinbarkeit des Übels in der Welt mit der Güte Gottes, zum Bewusstsein gekommen wäre.
Und die Herren der Kirche, die Kirchenfürsten bis herunter zum Bischof in der kleinsten Diözese befassen sich fast überhaupt nicht mit dieser Problematik, zumindest nicht in argumentativer Logik. Sie labern weiter vom Gott der Liebe, ja, dass er die unendliche Liebe sei und beten im Vater Unser zum Vater im Himmel, als ob dieser mit der Erde nichts zu tun hätte. Der Ratzinger-Papst Benedikt XVI. hat in seiner Enzyklika »Deus caritas est« („Gott ist die Liebe“) die Grenzen festgelegt, an die sich der Katholik in Bezug auf das Theodizeeproblem zu halten hat: „Der betende Christ bildet sich selbstverständlich nicht ein, Gottes Pläne zu ändern, oder zu verbessern, was Gott vorgesehen hat“. Er „bittet“ lediglich um „den Trost seines Geistes… Eine echt religiöse Grundhaltung vermeidet, dass der Mensch sich zum Richter Gottes erhebt und ihn anklagt, das Elend zuzulassen, ohne Mitleid mit seinen Geschöpfen zu verspüren“. Der Mensch soll sich nicht „anmaßen, unter Berufung auf die Interessen des Menschen gegen Gott zu kämpfen“, denn sonst gerate er in „die Fänge fanatischer und terroristischer Lehren“. (S. 42). Wirklich starker Tobak, wenn der Autor dieser Liebesenzyklika Menschen guten Willens droht, Fanatiker und Terroristen zu werden, nur weil sie mit dem Problem des ungeheuren Leides Unschuldiger in dieser Welt nicht fertig werden!

Nur ganz wenige Theologen der beiden Kirchen in Deutschland haben sich über die Grenzen, die der Papst im Hinblick auf das Theodizeeproblem gesetzt hat, hinausgewagt. Aber auch sie haben dieses Problem nicht gelöst.
Aber auch mit der totalen Ablehnung Gottes wegen des Übels und der ungeheuren Leiden in der Welt ist keine totale Lösung des Theodizeeproblems gegeben. Geißler täuscht sich auch noch kurz vor seinem Tod, wenn er glaubt, Gott sei durch diese Problematik endgültig widerlegt. Nehmen wir nur ganz hypothetisch an, es gebe einen Gott und er nehme die Menschen ganz ernst. Dann muss er ihnen die volle Freiheit geben zum Bösen wie zum Guten. Dann darf er ihnen auch nicht helfen, wenigstens nicht sichtbar und beweiskräftig. Sonst würden die meisten Menschen aufgrund des bei ihnen überwiegenden Egoismus nur noch brav sein, um sich von diesem Gott alle Gaben und den Himmel geben zu lassen. Gerade die Unentschiedenheit, dass man nicht genau weiß, ob Gott existiert, ist die Grundlage für ein ethisches Leben, das nicht egoistisch nach dem Lohn und Lob vonseiten Gottes schielt. Der Glaube an Gott hat Entscheidungscharakter, ebenso wie der Unglaube. Kein Mensch hat nur rein rationale Argumente für die Existenz Gottes, kein Atheist gegen sie. Eine gewisse Portion Glaube angesichts der vielen Rätsel, die unsere Welt aufgibt, gehört offenbar zur psychischen Grundausstattung des Menschen (man denke nur, um ein einziges Beispiel zu nennen, dass wir die Materie und Energie des Universums nur zu vier Prozent verstehen, 96% aber dunkle Materie und Energie sind, die wir zwar postulieren müssen, weil wir sonst Gravitation und Expansion des Weltalls nicht erklären könnten, von denen wir aber nichts Genaues wissen).
Selbst Richard Dawkins, der wohl prominenteste Atheist der Gegenwart, betont im Unterschied zu vielen Atheisten, für die das ungeheure Unrecht und Leid in der Welt ein absoluter Beweis für die Nichtexistenz Gottes ist, dass das Theodizeeproblem mit der Existenz Gottes nicht zu tun habe. Nur müssten wir uns dann Gott ganz anders denken, als es die Kirchen täten. Einen deistischen Gott kann sich sogar der Atheist Dawkins gut vorstellen: „Höchstens ein bisschen deistische Mitwirkung bei den Anfangsbedingungen des Universums, so dass über lange Zeiträume hinweg Sterne, Elemente, Chemie und Planeten entstehen konnten, und die Evolution des Lebens stattfand … Ich bin allerdings der Ansicht, dass selbst ein nicht eingreifender … Gott, der viel weniger gewalttätig und unbeholfen ist als der abrahamitische Gott, bei freier, unvoreingenommener Betrachtung immer noch eine wissenschaftliche Hypothese ist“ (Dawkins, Der Gotteswahn, S. 87f.).

Angesichts all dessen ist klar: Ein Gott, der gerade vom Menschen und seiner Würde groß denkt, müsste ihm die volle Entscheidungsfreiheit gewähren, also auch die Freiheit zum Bösen geben. Und das gilt für jeden angenommenen Gott, nicht nur für den jüdisch-christlichen, auch wenn Heiner Geißler wenigstens implizit andeutet, sich evtl. noch an einen anders gearteten Gott als den christlichen vorstellen zu können.
Am Ende bleibt jedem ein zur Metaphysik hin offener Agnostizismus. Keiner weiß mit absoluter Gewissheit, dass es Gott gibt. Keiner mit der gleichen Gewissheit, dass es ihn nicht gibt. Und der Theist hat obendrein noch die Last, sich einen Gott mit Eigenschaften vorzustellen, die einigermaßen seinem Wesen entsprächen, wiewohl ebenfalls klar ist, dass kein Gott, dem wir vorschreiben, wie er zu sein hat, der Urgrund alles Seins sein könnte.
Was besonders erstaunt, ja erzürnt, ist die Tatsache, dass die Repräsentanten des heutigen Luthertums während des ganzen Luther-Jubiläums-Jahres zu der hier behandelten Thematik nichts getan oder beigetragen haben. Aber wer nur die halbe Wahrheit über Luther sagt, begeht auch eine halbe Lüge! Und Luther scheute sich nicht, das Theodizeeproblem zu „lösen“, indem er immer wieder betonte, Gott habe eben auch eine grausame, despotische und tyrannische Wesensseite und der Mensch habe sich einfach zu fügen und geduldig und ergebenst das von Gott über ihn gebrachte Leid zu erdulden.
Am leichtesten macht es sich das jesuitische Schlitzohr Bergoglio alias Papst Franziskus. Indem er vor Journalisten erklärt, Gott sei nicht katholisch, glaubt er auf clevere Weise das Theodizeeproblem locker umgehen zu können. Denn da Gott nicht katholisch ist, sollen halt alle nichtkatholischen Theologen aller anderen Religionen und Konfessionen sich den Kopf darüber zerbrechen, wie sie ihren Gott mit Übel und Leid der Welt kompatibel machen.


Zur Vertiefung und weiteren Begründung dieser Gedanken siehe meine Bücher:
Zu Luther: „Luther ohne Mythos. Das Böse im Reformator“, Ahriman Verlag, Freiburg, 3. Auflage 2013.
Zu Dawkins: „Die Neuen Atheisten“, Essen 2010, Verlag Die Blaue Eule.
Zu Ratzinger: „Papst-Entzauberung“, BOD-Verlag, Norderstedt 2007.
Zu Bergoglio: „Papst Franziskus. Die kritische Biografie“, Tectum Verlag, Marburg 2016.
Zu Theodizee und Evolution: „Vom wahren Geist der Humanität“, NIBE-Verlag, Alsdorf 2017.

Erscheinungsdatum: 07.12.2017