Wenn man unsere im Argen liegende Welt betrachtet, wenn man nur an die vielen Katastrophen, Konflikte und Kriege denkt, wie soll man da noch Weihnachten feiern können?

Muss nicht, wer da noch feiern kann, als gefühlloser Illusionist und Romantiker jenseits dieser unserer düsteren Realität erscheinen? Sicher, das negative Potential, das die Menschheit der Gegenwart angehäuft hat, um sich selbst und den Erdball total zu vergiften und in die Luft sprengen zu können, hat keine Parallele in der Geschichte. Aber die erste Weihnacht unserer abendländischen Geschichtsschreibung, die Nacht, da Jesus geboren wurde, fiel auch in eine schlimme Zeit, die von Kriegen, Eroberungen, Unterdrückungen und Naturkatastrophen sowie von gewaltigen Erschütterungen im Bewusstsein der damaligen Menschen geprägt war.

Weihnachten als «das Lächeln der Transzendenz»

Fast sechs Jahrhunderte vor Jesus war es Buddha gewesen, der den Völkern Ostasiens das «kosmische Lächeln» des Nirvana, des höchsten Seinzustandes, näherbrachte, eines Zustands, in dem alle Grenzen zwischen Individuum und Universum in einer großen mystischen Weihnacht wegschmelzen. Dann, vor etwa 2000 Jahren, näherte sich das Prinzip aller Wirklichkeit wieder in atemberaubender Weise den Bewohnern unseres Planeten. Eine neue, noch größere Weihnacht, die «Menschwerdung der Transzendenz» wurde eingeläutet.

Zum Zeitpunkt der Geburt Jesu wusste die Welt von all dem, was da gerade geschah, noch nichts. Man sagt zwar, dass große Ereignisse ihre Schatten vorauswürfen. Doch ist andererseits wahr, dass alles Große in der Stille geboren wird, fast schweigend seinen Anfang nimmt. So ist auch bei den großen Religionsstiftern die Kindheitsgeschichte, der Bericht über ihre Anfänge, nachträglich geschrieben, sozusagen «nachgeschoben» worden. Die Autoren, die über das Leben dieser Menschen schrieben, sagten sich: Wenn dieser Religionsstifter derart wunderbare Taten, Heilungen usw. als Erwachsener vollbrachte, dann müssen auch schon bei seiner Geburt und in seiner frühen Kindheit wunderbare Dinge geschehen sein.

Weihnachten als Heilsverheißung für die Tiere

Es ist daher auch gar nicht so sonderlich erstaunlich, dass die Kindheitsgeschichte Buddhas und Jesu einige interessante Parallelen aufweist. Es sind Parallelen einer jeweils wunderschönen Legende! In beiden spielen Tiere eine Rolle, was darauf hinweist, dass die Menschen mit der Geburt eines Großen, der angetreten ist, Göttliches und Menschliches miteinander zu versöhnen, immer auch die Hoffnung auf ein universales Heil verknüpfen; ein Heil und einen Frieden, der eben auch alle Lebewesen einbeziehen muss, wenn er ganz und wirklich umfassend sein soll. Das Paradies am Uranfang wie am Ziel vieler Religionen kennt auch die Erlösung der in und an dieser Weltzeit leidenden, oft grausam gequälten Tiere. Denn ohne das Heil für sie könnten auch unser Leib und unsere Psyche, die sie im Prozess der Evolution mitaufgebaut haben und deren Teile sie insofern darstellen, sich nicht ganz erlöst fühlen.

Von den vier «offiziellen» Evangelisten behauptet lediglich Lukas, dass Jesus gleich nach der Geburt in eine Krippe gelegt worden sei, weil man in der Herberge keinen Platz für ihn gefunden habe. Aber die gesamte abendländische Tradition hat in Kunst und Schrifttum die Geburt im Stall inmitten von Kühen, Eseln und Schafen in allen möglichen Variationen dargestellt. Auch dies ein Hinweis auf den tiefer liegenden zukunftsbezogenen Sachverhalt, dass echtes, wirkliches Heil ein «Natur-Ereignis» werden, die ganze Solidar- und Schicksalsgemeinschaft von Menschen, Tieren, Pflanzen und materiellem Substrat einbegreifen muss. Der Ochs, der Esel, das Schaf, in Weihnachtslegenden und Kunst um das Jesuskind geschart, stehen auch für die unverfälschte Einfalt, Naivität und Unverbogenheit der Natur.  Sie laden ein und mahnen uns, aus unserem gekünstelten, verkrampft-verklemmten Zustand des profitorientierten Karriere- und Leistungsstrebens herauszufinden, uns wieder an die ökologischen Gesetze der Gelassenheit, des Nichtverzwecktseins und der Gesundheit anzuschließen. Denn Gesundheit im Vollsinn ist Gleichklang, Einschwingung in den Rhythmus des Lebens und des Kosmos, ist Sein, wie es sein soll, ist Stehen in der seinsmäßigen Wahrheit.

Weihnachten als kosmischer Frieden

In der Auffassung der Verfasser der Evangelien, sowohl der kanonischen wie der apokryphen, soll die Geburt Jesu auch den Beginn eines universalen Friedens in der Gesamtschöpfung signalisieren. So bezieht z. B. der Evangelist Matthäus den Kosmos, die Sternenwelt in das Ereignis der Geburt Jesu ein, indem er von «Magiern», Sternkundigen, Weisen aus dem Morgenland spricht, die von einem Stern zum Ort geführt werden, «wo das Kindlein war» (Mt. 2,9). Matthäus möchte auf diese Weise seiner Überzeugung Ausdruck geben, dass sozusagen der ganze Kosmos durch diesen Stern sein Interesse an der Menschwerdung bekundet. Das stimmt mit modernen astronomischen und astrophysikalischen Erkenntnissen überein, nach denen das Universum eine große Zahl positiver Faktoren, Kräfte, Energien, Gesetze und Regelhaftigkeiten bereitstellt, um Leben und Intelligenz grundlegend zu ermöglichen. Der Kosmos ist eine einzigartige, letztlich trotz aller vordergründigen Dissonanzen und Katastrophen sinnvolle Gesamtkonstellation, die auch angesichts der astronomischen Entfernungen und des erhabenen Schweigens der gewaltigen Sternenmeere für den Forscher in sehr beredter, überzeugender Weise Leben immer wieder ermöglicht, aufsteigende Entwicklung in Gang setzt und intelligentes Bewusstsein wie das menschliche hervorbringt.

Zum festen Bestandteil fast aller östlichen Weihnachtsdarstellungen in der bildenden Kunst gehört die Höhle als Stätte der Geburt Jesu. Zu diesem östlichen Bildtypus der Höhle gehört ebenfalls das kosmische Licht, das von dem über der Höhle stehenden Stern in sie hereinflutet. Auch das ein Symbol für den kosmischen Frieden, der in der Intention christlicher Künstler und Schriftsteller mit der Geburt Jesu verbunden sein soll.

Sodann darf die Sonne als Symbol der lebensspendenden Kraft des Universums in diesem Zusammenhang hinzugezogen werden, denn das von der Kirche relativ spät, nämlich erst im 4. Jahrhundert, auf den 25. Dezember festgelegte Datum der Geburt Jesu ist ja die christliche Umbenennung des römischen Sonnenwendtages, des Dies invicti solis, des Tages der unbesiegten Sonne. Dementsprechend erscheint Jesus in vielen künstlerischen Darstellungen und theologischen Schriften als «die wahre Sonne», von deren Strahlkraft auch noch das Licht der Sonnen und Sterne lebt. In der polemischen Intention der alten Kirche wurde allerdings Weihnachten überwiegend als Sieg Christi, der wahren Sonne, über den heidnischen Kult und als Sieg des Christentums im römischen Imperium begangen.

Leider hat auch das Christentum in seiner geschichtlichen Entwicklung die tiefere Wahrheit der Notwendigkeit des Einbezugs der Materie und des Kosmos in das Sinngeschehen der Geburt Jesu fast völlig vernachlässigt, ja vergessen. Immer mehr wurde das religiöse Verhältnis zu einer Beziehung allein zwischen der menschlichen Seele und Christus bzw. Gott, wobei der Leib, die Natur und der Kosmos systematisch ausgeschaltet, oft sogar verteufelt wurden. Es wäre interessant, in einer geistesgeschichtlichen Studie den damit gegebenen Zusammenhängen und Folgen nachzugehen. Möglicherweise ließe sich dabei sogar nachweisen, dass unsere oft seelenlose Wohnzivilisation (von Wohnkultur kann man ja da kaum noch sprechen) mit ihren Betonklötzen und «Wolkenkratzern» eine ihrer Wurzeln in dem Umstand hat, dass die Theologie und Philosophie des Christentums den Leib und die Natur derart geringschätzten bzw. sogar verachteten, so dass auch die Wohnung des Menschen als seine erweiterte Körperlichkeit, als sein notwendiges ökologisches Umfeld in ihrer Bedeutung gar nicht erkannt und in den Blick genommen werden konnte.

Erst heute besinnt sich das Christentum wieder auf ökologische Elemente in seinen uranfänglichen Startbedingungen. Will doch im Grunde jede Religion, die diesen Namen überhaupt verdient, das Heil des ganzen Menschen, das nur durch die Totalbeziehung zum Ganzen der Natur, des Universums, der umfassenden Wirklichkeit in all ihren Kräften und Tendenzen erreicht werden kann. Und ist doch auch Ökologie als Lehre vom oikos, vom Haus, interpretierbar als fortschreitendes Wohnungnehmen, als Sich-Beheimaten des Menschen in immer größeren Häusern, im Haus der Kindheit und Familie, im Haus der Schule und Gesellschaft (erste und zweite Sozialisation), im Haus der Natur und des Kosmos, wobei die kleineren Häuser in den größeren nicht untergehen, sondern im positiven Sinn aufgehoben sind. Der universale Mensch, der kosmische Mensch ist der in der Gesamtwirklichkeit beheimatete Mensch, der das heute weitgehend verlorene Urvertrauen in die Tragfähigkeit des Seins, ohne das niemand leben und gesund werden kann, wieder zurückgewonnen hat.

In der langen Geschichte des Christentums gibt es eine überraschende Gestalt, die dieses Urvertrauen zum Sein, zur gesamten Schöpfung Gottes ohne Ausnahmen vorgelebt und realisiert hat: Franz von Assisi. Er symbolisiert damit auch in seiner Person die Möglichkeit der Verwirklichung von Weihnachten als der mystischen Hochzeit des Menschen mit allen Elementen und Lebewesen, die eine der Bedingungen dafür ist, dass der Universale Frieden als Höhepunkt aller Weltentwicklung erreicht werden kann. Franz von Assisi ist jedenfalls einer der großen Zeugen für die Wahrheit, die uns Weihnachten nahebringen will, nämlich dafür, dass echter Frieden nur in der Perspektive der Verbundenheit und Versöhnung des Menschen mit Natur und Kosmos auf der einen und dem Absoluten, Unendlichen Geist auf der anderen Seite zu haben ist. Wobei schon der Begriff «andere Seite» schief ist, weil das Innerste des Menschen ebenso wie das Innerste von Natur und Kosmos eben dieser Geist ist. Das Eigentliche und Beste an der Religiosität, zu der uns Weihnachten einladen möchte, besteht in der Überzeugung, dass das Haus des Menschen, sein geistig-seelisch-körperlicher Haushalt nur gesund, heil, ganz wird durch das bewusste Sich-hin-Beziehen auf den Kosmos der Natur und auf den in ihrem Innersten wesenden und wirkenden Absoluten Geist. Das Tiefen-Selbst im Menschen (umgeben von all seinen physikalisch-chemischen, biologischen und physischen Schichten und diese integrierend) als die eine umfassende Teil-Ganzheit und das Tiefen-Selbst des Kosmos (mit all seinen gewaltigen Massen, Strahlungen und Energien) als die andere umfassende Teil-Ganzheit – diese beiden Teil-Ganzheiten müssen zueinander kommen, sich durchdringen, sich vermählen und vereinigen, damit durch diese wahrhaft universale Versöhnung die Gesamtnatur wieder heil, «ökologisch» wird. Ökologische Religiosität lebt aus dem Bewusstsein, dass alles wieder ganz, gesund, heil werden kann durch die richtige, im Bewusstsein entdeckte, im Tiefen-Selbst verinnerlichte, in der Praxis realisierte  «Welt-Mensch-», «Kosmos-Mensch-», «Natur-Mensch-Beziehung», durch eine wahrhaft universale Spiritualität. Franz von Assisi hat diese unio mystica aller Dinge sehr anschaulich demonstriert durch sein genialnaives Schauspiel des universalen Friedens, nämlich seine berühmte Weihnachts- und Krippenfeier im Wald von Greccio (1223).

Der Mensch hat sich aus dem umfassendsten Öko-System «Mensch-Natur», «Mensch-Kosmos» willkürlich, demiurgisch, faustisch herauskatapultiert und muss nun wieder existentiell, erlebnismäßig begreifen, dass die Welt ein Organismus ist, der nur in und durch Verbundenheit (religio) lebt, und dass Isolierung und Fragmentierung Entfremdung, Krankheit und Zerstörung bedeuten.

Nur auf diese Weise wird das (der) Verrückte wieder zurechtgerückt. Nur eine wirklich universale Naturbeziehung und eine wirklich kosmisch weite Spiritualität sind im heute so fortgeschrittenen technisch-zivilisatorischen Entwicklungsstadium der Menschheit und an der Schwelle zu einem neuen Jahrtausend die geeigneten Instrumente, um eine im wahrsten Sinne des Wortes weltweite, überlegene, ganzheitliche Kultur aufzubauen, die gegenüber den negativ-destruktiven Kräften innerhalb der technischen Zivilisation ein gesundes, ökologisches Gegengewicht darstellen könnte.

Weihnachten als Legende und Sinn-Wahrheit

Wir haben es bei der Geburts- und Kindheitsgeschichte Jesu mit Legenden zu tun, die, wie die berühmte protestantische Enzyklopädie «Die Religion in Geschichte und Gegenwart» mit Recht sagt, «nur unter Voraussetzung ihrer Ungeschichtlichkeit sinnhaft interpretiert werden können». Gerade dann leuchtet in Wirklichkeit erst die tiefere Sinn-Wahrheit von Weihnachten auf, nämlich die durch die Geburt dieses großen Religionsstifters signalisierte Versöhnung aller Dinge, wie wir sie eben durch die Abschnitte «Lächeln der Transzendenz», «Heilsverheißung für die Tiere» und «Kosmischer Frieden» zu konkretisieren versuchten. Man kann die Bergpredigt Jesu als das ausformulierte Manifest dieser Weihnachtsbotschaft betrachten. Denn in der Bergpredigt wird ja den Armen, den Trauernden (in den apokryphen Evangelien: auch den trauernden Tieren), den Sanftmütigen, den nach der Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden, den Barmherzigen, den Friedensstiftern, den um der Gerechtigkeit Willen Verfolgten, «das Land», die Barmherzigkeit, das Himmelreich als Sinnbild der Erfüllung all ihrer gerechten Bestrebungen und Erwartungen versprochen. Dagegen wird den Reichen und Satten, also den Sklaven der zügellosen Profit- und Machtgier, das Wehe entgegengeschleudert, «weil sie ihren Trost bereits dahin haben», weil sie einmal (nach den Sinn-Gütern des Lebens) «hungern werden». Doch beinhaltet Weihnachten auch die Hoffnung auf die endgültige und universale Aufhebung aller Gegensätze am Ende des Weltprozesses in einer allumfassenden Liebe, die auch noch dem radikalen Gegner und Feind verzeiht und ihn in die Gesamterlösung einbezieht. Denn wer kann schon erlöst sein, wenn nicht alles andere Seiende zusammen mit ihm erlöst wird und zu seinem ewigen Urgrund und Urquell im Sein zurückfindet?

Im Weihnachtsfest verbindet sich Mythisches und Kultisches, wie überhaupt beinahe alle Mythen ja nicht bloß Erzählung, sondern auch (kultische) Handlung sind. So ist auch die Bergpredigt Jesu, wie sie im Lukas-Evangelium steht, so von Jesus nicht gehalten, sondern vom Hellenisten Lukas formuliert worden.

Zur weiteren Vertiefung dieses Beitrags sei auf folgende drei Bücher des Autors hingewiesen:

  • Mystik und Vernunft, NIBE Verlag, Alsdorf 2018 (jetzt in Würselen ansässig)
  • Die Vernunft des Universums. Lebensgesetze von Kosmos und Psyche, Essen 2003 (jetzt nur noch beim Autor erhältlich).
  • Ökologische Religion und Spiritualität. Ein neues Verständnis der Natur, Stephan Wunderlich Verlag, Sigmaringen 2021.
Erscheinungsdatum: 19.11.2021