Am 6. April dieses Jahres starb der bekannte Theologe Hans Küng. Eine mächtige Welle von Huldigungen und Lobeshymnen auf ihn erfolgte als Reaktion auf seinen Tod, nachdem es in den vergangenen Jahren, vor allem seit 2013, als er an Parkinson erkrankte, immer stiller um ihn geworden war.

Viele Superlative wurden ihm in den Würdigungen nach seinem Tod zuteil: Bekanntester Theologe, der erfolgreichste Bestseller-Autor auf theologischem Gebiet, Reformer der Kirche, ein neuer Luther, Anbahner einer Erneuerung der Kirche, Erfinder des Weltethos, Prophet u. ä.

Nun gilt ja bei Toten der Spruch: „De mortuis nihil nisi bene!“ Man solle also über Tote nur Gutes sagen. Andererseits sollte angemessene Kritik an all den überschwänglichen Lobpreisungen eines Theologen erlaubt sein, um der objektiven Wahrheit Raum zu lassen.

Sagen wir es gleich in einem Satz, auch wenn er ernüchternd klingt: Küngs Versuch, die Kirche zu retten, ist auf der ganzen Linie gescheitert!

Sein letztes größeres Buch, das diesen Rettungsversuch unternahm, kam 2011 heraus und trug den Titel „Ist die Kirche noch zu retten?“ Küng beantwortete diese Frage mit Ja, obwohl er an zahlreichen Stellen des Buches scharfe und massive Kritik an Papsttum und Kirchengeschichte geübt hatte.

Aber damit wird schon der wesentlichste Fehler in allem, was Küng schrieb, offenbar: Er blieb immer auf halbem Wege stehen, war nicht konsequent, nicht radikal genug, riss die Wurzel (radix) des Bösen bzw. Falschen in der Kirche nie ganz aus, sondern ließ die Resultate seiner Bücher immer mit einem »sowohl als auch« enden.

Beispiele gefällig?!:

  1. In einigen Aufsätzen und Büchern nimmt Küng das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes ins Visier. Aber trotz des Jubelgeschreis der mit ihm sympathisierenden Medien, er habe dieses Dogma widerlegt, war der wahre Ertrag seiner Kritik mangelhaft. Im Grunde lief trotz aller Gelehrsamkeit Küngs seine Ausfüh-rung über Unfehlbarkeit nur darauf hinaus, dass er diesen Begriff als nicht mehr modern darstellte und empfahl, ihn durch das Wort Indefektibilität zu ersetzen. Das heißt: Auf ihrem Weg, die Menschen zu Gott zu führen, könnten Kirche und Papst gar nicht irren, weil sie nach Gottes Ratschluss indefektibel, also ohne wirkliche Defekte seien. Wer wirklich Küngs Publikationen zur Unfehlbarkeit gelesen hat, muss zu dem Ergebnis kommen, dass Küng diesbezüglich nur eine leichte Begriffsverschiebung, im Grunde nur Wortspielerei begangen hat.

    Welcher Pressevertreter des Boulevards interessiert sich aber für diese Wortklaubereien? Kaum einer außerhalb der Welt der Theologen las diese beiden Bücher. Es blieb oberflächlicherweise dabei, dass Küng das Unfehlbarkeitsdogma widerlegt habe (siehe dazu ausführlich: H. Mynarek, Warum auch Hans Küng die Kirche nicht retten kann, Tectum und Nomos Verlag 2013, 93-114).

  2. Küng hat viel Kluges und Vernünftiges zur Problematik des Zölibats der Priester geschrieben, hat für die Abschaffung dieses kirchlich-doktrinären und autoritären Zwangszölibats plädiert. Aber er hat keine einzige praktische Aktivität in dieser Hinsicht in der Öffentlichkeit unternommen. Es wäre wie eine Tod bringende Bombe angesichts seines Bekanntheitsgrades eingeschlagen, wenn er mit seiner langjährigen Freundin vor die Öffentlichkeit getreten wäre und frei und offen gesagt hätte: „Wir heiraten und ich bleibe dabei trotzdem amtierender Priester! Die nun auf mich herabprasselnden kirchlichen Verbote interessieren mich nicht, ich nehme sie nicht mehr ernst.“ Er tat es nicht, gegenüber dem „Spiegel“-Magazin schummelte er sich herum: „Ja, Frau… lebt im selben Haus, aber zwei Stockwerke höher und mehr dazu ist nicht zu sagen.“ Ähnlich an der Wahrheit vorbeigeschwindelt hatte sich ja der Theologe Eugen Drewermann: Er halte eine bestimmte Liebesordnung in seinem Leben aufrecht. Mehr wolle er dazu nicht sagen.

  3. Was für eine Unterstützung für die Bewegung der Frauen, die als Priesterinnen in der Kirche wirken möchten, hätte es gegeben, wenn der weltbekannte Theologe Küng mit seiner Freundin vor die Presse getreten wäre und verkündet hätte, meine Frau bzw. Freundin wird Priesterin. Die Kirche wäre entweder wegen eines ungeheuren Auszugs vieler Frauen zusammengebrochen oder sie hätte, um zu überleben, Tür und Tor für die Zulassung von Frauen zur Priesterweihe aufmachen müssen. Wiederum Nichts dergleichen machte Duckmäuser Küng – also blieb alles beim Alten! Das unter 3 Gesagte ist allerdings insofern nur hypothetisch, weil wir ja gar nicht wissen, ob Küngs Freundin auch den Wunsch gehabt hat, Priesterin zu werden. Nicht jede Frau eines Priesters will ja auch Priesterin werden.

  4. In einigen Aufsätzen, vor allem aber in seinem voluminösen Buch „Christ sein“, präsentiert Küng eine ganze Menge von Argumenten dafür, dass Jesus das vollkommenste Individuum der Menschheitsgeschichte gewesen sei. Er unterlässt es zwar, um auch für Atheisten attraktiv zu sein, das kirchliche Dogma auszusprechen, Jesus sei Gott, die zweite Person der trinitarischen Gottheit. Aber als absolut vollkommener Mensch müsste Jesus sowieso Gott sein, denn einen absolut vollkommenen Menschen kann es wegen der Kontingenz und Evolution des Menschen gar nicht geben. Somit blieb Küng im Grunde auch mit seiner Jesusideologie auf der halben Strecke stehen. Er war also auch in diesem Punkt nur eine moderne Ausgabe eines Propagandisten und Apologeten der Kirche, wie gesagt: lediglich im modischeren Sprachgewand (siehe dazu das Kapitel „Küngs Kirche Jesu Christi“ in meinem oben angegebenen Buch 31-70).

  5. Ebenso inkonsequent und halbherzig war Küng in seinem letzten Lebensakt: Er werde zwar das 7. Sakrament der Kirche, die letzte Ölung, von keinem Priester entgegennehmen, aber ein befreundeter Kleriker werde schon bei seinem letzten Gang aus dem Leben zugegen sein.

  6. In seinem Buch „Ist die Kirche noch zu retten?“ will Küng aber gar nicht mehr so sehr Theologe als vielmehr Arzt sein, sozusagen nach der Devise: Theologisch ist die Kirche sowieso auf dem Holzweg, es hilft nur noch ein Arzt, der die kranke und krankmachende Kirche, die nicht mehr heilt, sondern heilungsbedürftig ist, vielleicht retten könnte. Küng macht tatsächlich im ganzen Text dieses Buches ernst mit seiner Berufung zum Kirchenarzt. Es wimmelt in Küngs Buch von medizinischen Termini, von Anamnesen, Analysen, Diagnosen, Keimen und Viren, Rehabilitation und Reanimation, Therapien und Zwangstherapien, Rekonvaleszenz und Rückfällen, alle bezogen auf das schwerkranke System Kirche.

    Lange vor Küng und wahrscheinlich nicht ohne Einfluss auf ihn hat der katholische Theologe und weltoffene damalige Herausgeber und Chefredakteur der Zeitschrift „Kirche In“, Rudolf Schermann, bereits einen umfassenden Krankheitsbericht der Kirche in seinem Buch „Woran die Kirche krankt?“ vorgelegt (München 1993). Sein Buch gliedert sich in drei Hauptteile, von denen der erste der „Diagnose“, der zweite der „Krankengeschichte“ und der dritte der „Therapie der Kirche“ gewidmet ist. Vieles in diesem Buch ist eine Antizipation dessen, was Küng Jahre später in „Ist die Kirch noch zu retten?“ schreibt. Aber Küng hat ohnehin nie Probleme gehabt, die Vorarbeiten seiner Assistenten und Assistentinnen in seinen Werken zu verwerten. Zugegeben, manche seiner Mitarbeiter hat er in einigen seiner Werke auch namentlich erwähnt und manche von ihnen wie Kuschel und Häring aus Dankbarkeit auch mit einem Lehrstuhl bedacht.

  7. In Küngs umfangreichen Arbeiten sind zahlreiche Widersprüche zu bemerken. Hier sei nur ein fundamentaler näher besprochen. Eines seiner wichtigsten Axiome lautet: „Wahre Menschlichkeit ist Voraussetzung wahrer Religion“, und „Wahre Religion ist Vollendung wahrer Menschlichkeit“. Dazu ist kritisch anzumerken: Wenn wahre Menschlichkeit die Voraussetzung wahrer Religion ist, dann ist die letztere überflüssig, da man zur wahren Menschlichkeit ohne sie gekommen ist. Wahre Menschlichkeit ist zudem bereits ein so umfassender, hoher, idealer Wert, dass es Schwachsinn und Unsinn wäre, noch eins draufzusetzen und ihre Vollendung durch Religion zu verlangen. Küng hat auf diese Weise ein klassisches Eigentor geschossen, hat auf elegante Weise die Religion als nicht notwendig für die ethische Menschwerdung, für echte Humanität erklärt. Aber diesen Widerspruch hat er bis zu seinem Tod nicht erkannt, getilgt, widerrufen. Vielmehr hatte dieses hier kritisierte Axiom weiterhin einen vorderen Platz in seinem »Projekt Weltethos«.

    Auch sonst ist dieses Projekt voller Widersprüche. Besonders ein Widerspruch sticht dabei heraus. Bei seinem »Projekt Weltethos« auf religiöser Grundlage muss er zwar von der Gleichheit aller Religionen ausgehen, weil er sonst keinen Vertreter derselben an den Verhandlungstisch bekommt, andererseits betont er aber immer wieder, „das gemeinsam Christliche, das Handeln im Geist und in der Gesinnung Christi dürfe einem ethisch-religiösen Synkretismus natürlich nicht zum Opfer fallen“.

    Tatsächlich wird ja Küng in seinem »Weltethos-Projekt« nicht müde, unentwegt die Gefahr einer Moral ohne Gott an die Wand zu malen, obwohl er es bei diesem Projekt doch auch mit Buddhisten zu tun hat, die keinen personalen Gott anerkennen. Unberührt davon predigt Küng, dass menschliche Moral und Ethik hinfällig und unmöglich würden, wenn das Absolute, der Glaube an einen persönlichen Gott entschwände. “Nur das Absolute“, so Küng, „kann absolut binden!“ Das Humanum müsse im Divinum (Göttlichen) begründet sein! Menschliche Autonomie müsse durch Theonomie (Gottgesetzlichkeit) begrenzt und überhöht werden!

  8. Dass Küng sich nie ganz von Papst und Kirche dezidiert absetzen konnte, liegt wahrscheinlich aber auch an seinem Bildungsweg. Lange Zeit studierte er an der Gregoriana, der wichtigsten päpstlichen Universität. Wohnen musste er im Germanicum. Mit Recht schreibt „Kirche In“: „Beide Institutionen werden von der Gesellschaft Jesu geführt; ihren Ursprung haben sie ebenfalls beide im Werk der Ordensgründer Ignatius“ (KJ 05/2021, S. 23).

    Küng erlebte dort die äußerst strenge jesuitische Disziplin, konnte aber auch an diesen beiden Orten wichtige Freundschaften mit prominenten Persönlichkeiten der Kirche schließen, die ihm auf dem Karriereweg wesentlich helfen konnten, andererseits aber auch Abhängigkeiten brachten. Konfrontiert wurde Küng dort aber auch mit dem 4. wesentlichen Gelübde des Jesuitenordens, das nur dieser, nicht andere Orden der Kirche, zu leisten hat, nämlich das Gelübde des absoluten Gehorsams dem Papst gegenüber, auch wenn dieser falsch redet oder handelt.

    Vielleicht hielten die vielen Kontakte Küngs selbst mit Kardinälen der Kurie und anderen Vatikanisti sowie der Geist oder Ungeist der Jesuiten Küng davon ab, den letzten entscheidenden Schritt zu tun und aus der Kirche auszutreten.

    Jedenfalls gestand mir sogar Professor Kuschel, sein Schüler, in der Pause einer Diskussion, die ich mit ihm im Südwestfunk der Bundesrepublik führte: „Denken Sie nicht, dass Sie einzigartig dastehen. Auch Küng hat sich immer wieder mal schweren Herzens mit dem Gedanken getragen, aus der Kirche auszutreten“. Aber ich hatte bereits Ende 1972 in meinem »offenen Brief« an den Papst meinen Durchblick formuliert, dass ein immanenter Kritiker der Kirche gar nicht so frei sein könne, die Kirche rückhaltlos zu kritisieren, weshalb eine radikale Umwandlung der Kirche nur von außen her gelingen könne.

    Auch politisch hatte sich Küng gut abgesichert. Beste Beziehungen hatte er zum Beispiel zu Helmut Schmidt, zu Angela Merkel, und er gehörte sogar dem deutsch-jüdischen Neve-Shalom-Kuratorium an mit so prominenten Politikern wie dem sozialdemokratischen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse, der christdemokratischen Bundestagspräsidentin Prof. Dr. Rita Süssmuth, dem jüdischen Chef des Fritz-Bauer-Instituts, Prof. Dr. Micha Brumlik, dem evangelischen Landesbischof in Bayern Dr. Johannes Friedrich, dem evangelischen Theologen und Vorstandmitglied der „Aktion Sühnezeichen“, Volkmar Deike, dem Psychoanalytiker und Bestsellerautor Prof. Dr. Horst Eberhard Richter, um nur einige der politisch und kirchlich einflussreichen Granden zu nennen.

    So brauchte Hans Küng nicht zu jammern, obwohl er es tat, als er keine Lehrerlaubnis in der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen mehr hatte, aber sofort einen viel besser dotierten, zu keiner Fakultät gehörigen neu errichteten Lehrstuhl an dieser Universität mit allen Freiheiten zur Verfügung gestellt bekam, wo er also auch sein Projekt Weltethos viel besser entfalten konnte. Die Baden-Württembergische Regierung stellte ihm diesen Lehrstuhl großzügig zur Verfügung, obwohl die Amtskirche das gar nicht gern sah.

  9. Sein innigster Lebenswunsch aber, den er seit 1979 hegte, dem Datum, als die Bannsprüche der Kirche von Seiten Roms und der Deutschen Bischofskonferenz auf ihn herabprasselten, erfüllte sich nicht. Bis an sein Lebensende hatte er gehofft, der Papst werde alle Bannsprüche gegen ihn aufheben und ihn rehabilitieren, ja ihn als neuen Thomas von Aquin, als Kirchenlehrer des 20. und 21. Jahrhunderts ehren, aber weder der polnische Papst noch Papst Ratzinger und auch Papst Franziskus kannten diesbezüglich Gnade. Der kleinste Anschein einer Antastung päpstlicher Macht ist in ihren Augen unverzeihlich. Franziskus ließ sich wenigstens dazu herab, Küng ein paar nichtssagende Grußantworten zu übermitteln. „Kirche In“ erklärte dazu zu Recht: Es hätte „eigentlich der Kirche eine Ehre sein sollen, seine tatsächlichen Verdienste um sie unbefangen, wenn auch spät zu würdigen“ (W. Beinert, Der Prophet Hans Küng, in: KI 05/2021, S. 24).

Vielleicht wird es die Kirche einmal bereuen, den letzten Versuch, die Kirche zu retten, der eben von Hans Küng stammt, nicht besser aufgenommen und positiv verarbeitet zu haben.

Weiterführende und umfassende Hintergrund-Literatur zu diesem Thema sind Mynareks Bücher:

  1. Warum auch Hans Küng die Kirche nicht retten kann, Tectum beim Nomos Verlag, Marburg 2012;
  2. Herren und Knechte der Kirche, 3. Auflage 2013 im Ahriman Verlag, Freiburg;
  3. Papst-Entzauberung, BoD Verlag, Norderstedt 2007;
  4. Die Neue Inquisition, NIBE Verlag, Alsdorf 2018;
  5. Eros und Klerus, NIBE Verlag, Alsdorf 2018;
  6. Jesus und die Frauen, Brill Verlag und Schöningh Verlag, Paderborn;
  7. Papst Franziskus – Die kritische Biographie, Tectum im Nomos Verlag, Marburg 2015 (jetzt im Nomos Verlag, Baden-Baden);
  8. Der polnische Papst. Bilanz eines Pontifikats, Ahriman Verlag, Freiburg 2005.
Erscheinungsdatum: 26.05.2021