Richtig daran ist einzig und allein, dass der Begriff Gott im Gehirn eines Menschen, seine Vorstellung von einem Gott, das, was er mit Gott meint, verblassen, ja ganz erlöschen kann. Der Glaube an diesen Gott kann also sterben. Das wäre demnach der Tod Gottes in meiner Begriffs-, Vorstellungs- und Gefühlswelt, in der subjektiven Welt einzelner menschlicher Individuen. Dass dieser Gott im Subjekt vieler Menschen gestorben, weil nicht mehr vorhanden ist, ist eine Binsenwahrheit. Das sagt aber absolut nichts darüber aus, ob es einen Gott unabhängig von der menschlichen Gedanken-, Vorstellungs- und Gefühlswelt gibt. Diesen, vom Menschen und jedem Geschöpf unabhängigen, Gott kann niemand töten, weil ihn niemand erschaffen hat und auch gar nicht erschaffen kann.
Natürlich kann man die Möglichkeit eines solchen Gottes verneinen, aber das ändert an dessen Existenz nichts, wenn er denn existiert. Selbst wenn alle Menschen auf unserem Planeten, ja selbst alle intelligenten Wesen, die es womöglich im Universum oder im Multiversum gibt, den Tod Gottes proklamieren sollten, würde das nicht das Geringste daran ändern, dass dieser unabhängig von unserer Psyche, unserem Gehirn existierende Gott lebt. Die Frage, ob ein solcher Gott existiert, ist eine ganz anders geartete. Menschen aller Couleur können auf diese Frage mit Ja, Nein oder „ich weiß nicht" antworten, aber ihre Antwort, wie immer sie ausfällt, entscheidet in keiner Weise die Frage der Existenz Gottes. Man kann Gott verspotten und verhöhnen. Unkluge Menschen können ihn als Spaghetti-Monster oder Witzfigur darstellen- sie töten oder beschmutzen auf diese Weise nur ihre eigene Vorstellung von Gott. Wie sagt es doch Johann Wolfgang Goethe zu Recht so trefflich: „Wie einer ist, so ist sein Gott. Darum ward Gott so oft zum Spott!"
Das vollständige, voluminöse Werk Ludwig Feuerbachs ist im Grunde einer einzigen Idee gewidmet: Der Mensch habe Gott erschaffen — deshalb gebe es Gott nicht! Aber der grundsätzliche Fehler Feuerbachs, des Vaters aller „modernen" Atheisten, besteht darin, typisch anthropozentrisch das Bewusstsein des Menschen so aufgeplustert zu haben, dass es fähig sei, den Ur- und Allgrund alles Seins zu erschaffen und zu zerstören. Es ist der übersteigerte Autonomiewahn vieler Menschen, der hierbei Pate steht und den Friedrich Nietzsche auf die Formel brachte: „Wenn es Götter gäbe, wie hielte ich es aus, kein Gott zu sein. Also gibt es keine Götter!"
Selbst der prominente französische Atheist Michel Onfray ist sich der Unlogik und Widersprüchlichkeit der These vom Tod Gottes bewusst. Über Nietzsche, der in der Philosophiegeschichte zu den eifrigsten Verkündern dieser These gehört, spottet er mit beißender Ironie: „Der Tod Gottes war eine ontologische Spielerei, ein Taschenspielertrick, untrennbar verbunden mit einem 20. Jahrhundert, das überall den Tod erblickte: Tod der Kunst, der Philosophie, der Metaphysik, des Romans, der Harmonielehre und der Politik. Lasst uns doch heute den Tod dieser fiktiven Tode beschließen! ... Die Nachricht vom Ende Gottes wurde - gerade, weil sie falsch war - lautstark verkündet, mit Pauken und Trompeten und theatralischen Auftritten. Doch man freute sich zu früh … Noch nie sind so viele Falschmeldungen als erwiesene Wahrheiten gefeiert worden. Um den Tod Gottes bestätigen zu können, wären Sicherheiten, Indizien und Beweisstücke vonnöten gewesen. Doch all dies fehlt".
Onfray höhnt diesbezüglich in Richtung Nietzsche: „Wer hat den Leichnam gesehen? Einmal abgesehen von Nietzsche". Er hätte sich doch „aufdrängen und bestialisch stinken" müssen, bevor er „sich nach und nach aufgelöst hätte. Wir hätten einen regelrechten Verwesungsprozess erlebt — auch im philosophischen Sinne. Stattdessen ist der zu seinen Lebzeiten unsichtbare Gott auch als Toter unsichtbar geblieben. Der Ankündigungseffekt: Wir warten immer noch auf Beweise. Aber wer kann sie uns schaffen? Wo gibt es einen neuen Anwärter (einen etwas Verrückten) für diese unmögliche Aufgabe? Denn Gott ist weder tot noch im Begriff zu sterben — auch wenn Nietzsche und Heine dies glaubten."
Und Onfray spottet weiter: „Wo sollte Gott denn gestorben sein? In der Nietzsche-Schrift ,Die fröhliche Wissenschaft'? Ermordet in Sils- Maria in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch einen inspirierten, tragischen, erhabenen und verstört herumgeisternden Philosophen? Und mit welcher Waffe? Mit einem Buch, mit mehreren Büchern oder aber mit einem Gesamtwerk? Mit Verwünschungen, Analysen, wissenschaftlichen Demonstrationen oder Widerlegungen? Oder mit ideologischen Attacken, dem Dolch der Schriftsteller? War der Mörder allein? Agierte er aus dem Hinterhalt? Oder hatte er eine ganze Bande hinter sich, die unter der Schirmherrschaft der Ahnherren von de Sade und Abt Meslier steht? Müsste der Mörder Gottes, falls er existiert, nicht ein noch mächtigerer Gott sein? Und steckt hinter diesem Scheinverbrechen nicht ein ödipaler Wunsch ...?"
Wohlgemerkt: Es handelt sich bei Onfray um einen der einflussreichsten französischen Atheisten der Gegenwart. Und er gesteht sogar, dass der wirkliche Tod eines wirklich existierenden Gottes für ihn eine „gute Nachricht" gewesen wäre. Aber sein Wirklichkeitssinn lässt ihn trotzdem die These vom Tod Gottes als absurd entlarven: „Ist Gott tot?", fragt er, und gibt selbst die Antwort: „Wir warten immer noch - vergeblich - auf den geringsten Beweis dafür. Statt auf ein fruchtbares Feld, das ein solcher Tod freigelegt hatte, stößt man vielmehr auf den Nihilismus, auf den Kult des Nichts, auf die Leidenschaft für die Leere, auf die morbide Begeisterung für das nächtliche Schauspiel vom >Untergang der Kulturen< und auf die Faszination für die Abgründe und bodenlosen Schlünde, in denen man seine Seele, seinen Körper, seine Identität, sein Wesen und das Interesse an allem verliert. Ein düsteres Gemälde, eine deprimierende Apokalypse".
Ontologisch, in Bezug auf die Seins- und Wirklichkeitsfrage lag Nietzsche falsch mit seiner These des Gottestodes, ebenso wie die ganze auf Nietzsche aufbauende Tod - Gottes - Theorie angelsächsischer Theologen vom Schlage Altizers, Hamiltons, van Burens und anderer. Psychologisch im Hinblick auf das menschliche Innenleben aber hatte er recht, wenn er beredt die schlimmen Folgen ausmalte, die sich nach der Streichung Gottes für die Menschen ergeben würden. Nach der von ihnen vollbrachten Tat des Gottesmordes stellt er die tragischen, oft zitierten Fragen: „Wohin bewegen wir uns (nun)? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? … Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?" Nicht so anschaulich, aber nicht weniger deutlich hat es Jean-Paul Sartre ausgedrückt. Es gibt „nichts a priori Gutes", „alle Geländer und Schutzwehren zerbrechen", „nichts, absolut nichts rechtfertigt mich, diesen und nicht jenen Wert, diesen und nicht jenen Wertmaßstab mir zu eigen zu machen". Nietzsche hat auch mit der ihm eigenen unheimlichen Scharfsicht diesen allgemeinen Wertrelativismus als Nihilismus erkannt. Wo nämlich jeder seine Werttafel willkürlich setzen kann, wo für den einen gut ist, was für den anderen schlecht ist, weil jeder Mensch nach dem Tode Gottes sich selbst das höchste Wesen ist und deshalb seine Wahl die letzte Begründung der Werte und ihrer Rangordnung bildet, dort muss schließlich ein tödliches Misstrauen, eine lähmende Skepsis den Werten gegenüber aufkommen, dort gelangt man zur Einsicht, wie wenig Verlass auf sie ist, wie wenig die Menschen im Stande sind, der menschlichen Existenz einen tragfähigen Sinn zu verleihen.
Dieser Werteskeptizismus, dieses Nichts an wirklich tragfähigem Sinn und an in allen Lebenssituationen sich durchhaltender Bedeutsamkeit eines Wertes aber ist Nihilismus. „Was bedeutet Nihilismus? Es bedeutet, dass die obersten Werte sich entwerten. Es fehlt das Ziel, es fehlt die Antwort auf das ,Warum? ' Der radikale Nihilismus ist die Überzeugung einer absoluten Unhaltbarkeit des Daseins, wenn es sich um die höchsten Werte, die man anerkennt, handelt", betont Friedrich Nietzsche. Der Atheist, der den Nihilismus als letzte Folge der Leugnung Gottes als des Grundes der Welt erkannt hat, ist der ernüchterte, kritische Atheist im Unterschied zum naiven Atheisten.
Der kritische Atheist bleibt allerdings selten beim Nihilismus, „diesem unheimlichsten aller Gäste" stehen. Sowohl Nietzsche als auch Sartre und auf seine Weise auch Albert Camus werden schließlich zu kritischen Pantheisten, die auf dem Unter- und Hintergrund des Nihilismus als der Konsequenz der Leugnung Gottes ein neues Wertesystem mit einem höchsten Prinzip aufbauen: bei Nietzsche ist dieses Prinzip einer neuen Wertsetzung der vergöttlichte Wille zur Macht, bei Sartre die vergöttlichte Freiheit, bei Camus die vergöttlichte metaphysische Revolte, der heroische Kampf gegen die Absurdität des Lebens. Diese Männer sind kritische Pantheisten, weil sie wissen, dass ihre Art von Pantheismus eine tragische, letztlich scheiternde ist. Ganz deutlich ist dies bei Camus zu sehen in der Art, wie er die unsagbare, aber nie zum Ziel gelangende Mühe des Sisyphos, des „Helden des Absurden", zeichnet, der das Symbol aller metaphysischen Revolte darstellen soll. Aber auch Nietzsches so genannter „aktiver Nihilismus", der ihm ein „Zeichen der gesteigerten Macht des Geistes" ist, weiß um die Tatsache, dass die Wahrheiten und Werte, deren Quelle der Wille zur Macht ist, nur noch „perspektivische Scheinbarkeiten" sind, etwas, dem „keine Realität entspricht". Wahrheit ist ihm nur noch „die Art von Irrtum“ ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte". Und auch für Sartre hat der Mensch die letztlich unerfüllte Begierde, Gott zu werden. Es ist eine „passion inutil“ (nutzlose Leidenschaft), weil er nie wirklich zum Sein kommt, weil schon die Möglichkeit, nein zu sagen, beweist, dass das Nichts „ununterbrochen anwesend ist, in uns und außer uns, das heißt, dass das Nichts das Sein heimsucht", dass es „auf dem Boden des Seins nichtet ... mitten im Sein selbst, in seinem Herzen, wie ein Wurm". Der Mensch nichtet als Fragender sich selbst, „indem er sich vom Sein losreißt". Fragend wird er „sich selbst zu seinem eigenen Nichts", „belastet er sich selbst mit Nicht-Sein" und lässt so „das Nichts in der Welt anbrechen".
Das Scheitern des kritischen Nihilismus scheint zu beweisen, dass Gott der unentbehrliche Seins- und Sinngrund der Welt und des Menschen ist. Also 1:0 für den Theismus? Ja, wenn feststünde, dass Gott existiert und er zugleich das absolut Wahre und Gute ist, dann wäre er der Garant für nicht mehr relative, sondern absolute Wahrheiten und Werte. Aber da es einen Beweis Gottes nicht gibt, wegen der Begrenztheit unseres Verstandes im Verhältnis zu einem unendlichen Geist, ja schon zu unserem Universum, nicht geben kann, bleibt die unaufhebbare Entscheidungssituation des Menschen, sich mit vernünftigen Gründen (wohlgemerkt: nicht mit Beweisen) für Gott oder den „allmächtigen General“ Zufall zu entscheiden.
Literaturverzeichnis:
Hubertus Mynarek, "Die Neuen Atheisten – Ihre Thesen auf dem Prüfstand“, Essen 2010,
Michel Onfray, „Wir brauchen keinen Gott“, 2. Auflage, München 2007,
Friedrich Nietzsche, "Der Wille zur Macht“, Leipzig 1923,
Jean-Paul Sartre, "Ist der Existentialismus ein Humanismus?“, Zürich 1947,
Hubertus Mynarek, "Vom wahren Geist der Humanität. Der Naturalismus ist kein Humanismus“, Alsdorf 2017, NIBE Verlag und vom selben Autor das im Herbst 2019 erscheinende Buch "Moderne Denker der Transzendenz. Brückenbauer zu einer Neuen Metaphysik", ebenfalls im NIBE-Verlag